»Was siehst du in meiner Seele verborgen?«
» Schaue und höre in dich hinein, mein Lied hat das Muster in dir entschlüsselt! « Kentaur und der Rabe wandten gleichzeitig ihre Blicke von ihm ab und schauten zu den Sternen empor. » Ich bin nicht an diesen Planeten gebunden. Ich kann die Sonnenaufgänge auf dem Mars genießen, auf dem Jupitermond Titan über die gefrorenen Ozeane schreiten, kann das Sonnensystem verlassen und auf Planeten fremder Sonnen wandern. Oft begnüge ich mich mit deinem Planeten, ja, meist mit diesem Gebirge hier. Glaube mir, obwohl die Menschen schon vieles zerstört haben, du müsstest dich Millionen von Lichtjahren von der Erde entfernen und würdest doch keinen Platz finden, der so schön und wertvoll ist wie dieser.«
Der Kentaur hob beide Hände, der Rabe breitete seine Flügel aus, ließ ein heißeres Kraa , Kraa , Kraa hören, dem ein scharfes Rak , Rak , Rak folgte und sie waren verschwunden. Wie weggezaubert.
Erstaunt blickte Vasilios zum Himmel. Im Osten zeigte sich die Morgenröte und in eben war doch noch Nacht gewesen. Der Mond war hinter den Bergen im Westen verschwunden, die ersten Vögel begannen ihr Morgenlied. Es schien, als wäre die Zeit zügiger vergangen, als wäre sie durch eine mystische Kraft beschleunigt worden.
Er fühlte, dass seine eine Hand etwas umfasst hielt. Es waren drei Stängel mit Blüten in zartem Rosa und mit länglich ovalen Blättern. » Erithrea Centaurium«, flüsterte Vasilios erstaunt, »Wo kommt das denn her?« Der Strauß war mit einem dünnen Band zusammengebunden, es war tiefschwarz und schien wie von innen her zu leuchten. Augenblicklich stand das Traumbild des Kentauren erneut vor seinem Auge. In Gedanken versetzte er sich in die Zeit der griechischen Götter zurück. Hatte der verletzte Kentaur Cheíron mit diesem Heilkraut nicht seine Wunden geheilt? War er nicht der weiseste und gerechteste unter den Pferdemenschen gewesen, ein fundierter Kenner der Arzneikunde?
Lächelnd wollte er die Traumbilder von Kentaur und Rabe abschütteln. Doch die Erinnerung an den gestrigen Nachmittag brach unvermittelt über ihn hereinbrach: ›Ich bin abgestürzt, habe mir das Bein und einige Rippen gebrochen, ich hatte am Kopf eine blutende Wunde. Wieso verspüre ich keine Schmerzen?‹ Er versuchte aufzustehen und konnte nicht fassen, wie leicht es gelang. Er tastete den Unterschenkel ab, alles war in Ordnung. Er fasste sich an die Brust, atmete tief ein und aus. Von Rippenbrüchen keine Spur. Er betastete den Kopf, alles fühlte sich gesund an. Er besah die Hände, sie waren unverletzt, zeigten nicht die geringste Schramme. War neben dem mysteriösen Gestaltwandler auch der Absturz in die Tiefe Bestandteil des Traums gewesen?
Dessen ungeachtet hielt er das Tausendgüldenkraut in Händen, gebunden mit einem Band in einer Farbe, wie aus einer fremden Welt. Wer hatte das dem Schlafenden in die Hand gedrückt? Hier, in dieser Bergeinsamkeit? Ein Wanderer?
Er hörte Hundegebell. »Iason! Hier bin ich!«, rief er. Seine Stimme kam ihm kräftiger vor.
Der Hund lief auf ihn zu, aufgeregt begann er an ihm zu schnuppern. »Alles in Ordnung, Iason«, sagte er und streichelte ihn über den Kopf. »Schade, dass du mir nicht verraten kannst, wessen Duftspur du da erschnüffelst.«
Mikis, ein Junge aus Zagora, kam eifrig winkend den Hang herunter. An schulfreien Tagen trieb er sich bei dem Hirten herum. »Hi, Vasilios«, schrie er schon von Weitem. »Akylas’ Ziegen ...«
»Tot, ich weiß«, unterbrach ihn Vasilios. »Blöde Sache das.«
»Nein, nein. Was redest du? Heute Morgen sind sie aufgetaucht. Putzmunter. Ist das nicht irre?«
»Prima«, krächzte Vasilios. Zu mehr konnte er sich nicht aufraffen. Hatte er nicht mit eigenen Augen gesehen, dass die eine tot, die andere in den Abgrund gestürzt war? ›Am besten, ich erzähle keinem Menschen, was mir seit gestern Abend passiert ist.‹ Er stellte sich die Schlagzeile in einer Boulevardzeitung vor: Angehender Medizinstudent stürzt bei der Suche nach zwei Ziegen im Gebirge ab. Von einem Kentaur errettet! Tote Ziegen wieder wohlauf! Das Studium könnte er vergessen, stattdessen wäre ihm ein Aufenthalt in einer Klapsmühle sicher.

Als Vasilios auf sein Elternhaus zuging, hupte es hinter ihm. Ärgerlich drehte er sich um. Vor ihm hielt ein roter zweisitziger Roadster. Atridi und Athina saßen darin, beide herausgeputzt, wie für eine Party.
Wie unter Zwang wandte er sich der attraktiven Blondine zu, sah ihr direkt in die Augen. Unbewusst umpackte seine Hand den Stiel der Blumen, die mit dem tiefschwarzen Band zusammengebunden waren.
Unter seinem forschenden Blick entglitt Athina die engelhafte Anmut ihrer Gesichtszüge. Die Hexe in ihr erkannte, dass der vermeintliche Dorftrottel sich anschickte, die mühsam errichtete Maske ihrer Unschuld zu durchdringen. Verstört fixierte sie ein Muttermal über seiner linken Augenbraue. Hatte dort nicht die Ahnung eines fünfzackigen Sternes mit tiefschwarzen Rändern aufgeleuchtet? War der bei ihrer gestrigen Begegnung schon vorhanden gewesen? Hatte sie ihn übersehen? Mühsam versuchte Athina eine magische Einwirkung auf seine Schmerzempfindlichkeit, doch im Gegensatz zu gestern blieb ihre Bemühung ohne jede Wirkung. ›Verdammt, warum klappte das nicht?‹ Ihr Blick glitt an Vasilios herab, hin zu der Hand mit den belanglosen rosa Blüten. Sie musste ihre Augen abwenden, als sich das Schwarz des Bandes in ihre Augen brannte.
»Hi, Vasilios! Hast du einen Unfall gehabt?« Atridis Stimme klang nach echter Besorgnis. »Deine Hose ist blutverschmiert!«
Vasilios sah an sich herab. Stimmt, da waren Blutspuren. Hatte der Hirtenhund aus diesem Grund interessiert an ihm geschnüffelt? »Nein, nein, das stammt nicht von einem Unfall«, erklärte er gedankenverloren. »Das ist das Blut einer Ziege. Die hatte eine verhängnisvolle Begegnung mit einem Wolf.« Er sah auf, ein Blick ausgefüllt mit Verachtung und vermischt mit einer Spur von Mitleid traf Atridi.
Atridis Augen verengten sich vor Zorn. ›Ist dem eine Laus über die Leber gelaufen? Was erlaubt sich der Schnösel? Ich frage ihn höflich, als Dank wirft er mir diesen abfälligen Blick zu! Womit habe ich das verdient?‹
»Atridi, wir müssen los, unsere Verabredung!«
»Stimmt, wir sind spät dran!«
Grußlos fuhren die Beiden davon.
Der Fluch der Schwarzmagierin - Gegenwart
28. Februar - Volos
Rechtzeitig zum Wochenende war die Sonne hervorgekommen und hatte die vielen Regenwolken vom Himmel verdrängt. Eine Rasselbande spielte Fußball auf der Straße. Geschickt wurden die Mülltonnen umspielt, die als Gegner zweckentfremdet wurden.
»Achtung, der Trick von Ronaldo«, rief ein Junge. Er senkte den Blick, führte den Ball im Dribbling mit der Innenseite des ballführenden Fußes hinter dem Standbein und sprang dabei leicht ab. Als er den Ball mit dem anderen Fuß seitlich wegführen wollte, prallte er mit einem Mann zusammen. Der stand ratsuchend im Weg und starrte auf einen Zettel in der Hand.
»Kannst du nicht aufpassen!«, schrie der empört auf, bückte sich und wischte über einen kaum sichtbaren Fleck, den der Ball auf der Hose hinterlassen hatte.
»Tut mir leid«, murmelte der Junge und starrte den Fremden an. ›Wo kommt der denn her?‹, fragte er sich. ›Hat er sich verlaufen?‹
Der Mann wirkte in seinen Edel-Jeans und mit der goldenen Armbanduhr in diesem heruntergekommenen Stadtteil von Volos fehl am Platz.
»Ist das hier die Kiriazis ?«, fragte er leidlich besänftigt, als er sich überzeugt hatte, dass die Hose wieder tipptopp war.
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