1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Schliefe er ein oder verlöre erneut das Bewusstsein, würde er den morgigen Tag nicht mehr erleben. Ein Wunder, dass er nicht schon in seiner Ohnmacht in den Abgrund gestürzt war. Eine verführerische Stimme in seinem Inneren flüsterte ihm zu. »Dreh dich und lass dich fallen und alle Schmerzen sind vorbei.« Eine leisere widersprach: »Durchhalten und kämpfen.«
Stocksteif blieb er liegen und versuchte wachzubleiben. »Akylas wird mich finden oder sein Hund Iason«, stöhnte er. Nein, sie würden erst am Morgen vorbeikommen, auch seine Mutter würde ihn erst am Morgen vermissen, da er in den Bergen hatte übernachten wollen.
›Zumindest bin ich hier vor Wölfen in Sicherheit‹, tröstete er sich.
Ein Rauschen wie von riesengroßen Flügeln ließ ihn zusammenfahren, ein grausames Stechen jagte durch seine Brust. Er sah nach oben. Zwei blassbräunliche Vogelköpfe mit gebogenen, blutverschmierten Schnäbeln und nackten bläulichen Hälsen schoben sich über die Felskante. Gierige Augen fixierten ihn. Aasgeier! Schaudernd wandte er den Kopf ab.
Vasilios wusste, solange er bei Bewusstsein war, würden sie ihn nicht anrühren. Er schloss die Augen, vorsichtig, mit arger Mühe, tastete er nach dem Rucksack. Seine Hände schmerzten, die gebrochenen Rippen taten ihm höllisch weh, doch er schaffte es, die Flasche herauszuziehen. Mutlos sank er zurück. Klar, sie war ja leer gewesen. Sein Körper rutschte einige Zentimeter in Richtung Abgrund. Der Durst peinigte ihn schrecklich, zum Glück war die Sonne schon lange hinter den Bergen verschwunden und die Luft wurde kühler. Die Nacht brach herein. Nur nicht einschlafen. Er legte die Hand schützend über die Augen. »Nicht meine Augen, ihr verfluchten Vögel, nicht meine Augen ...« Er versuchte, sich zu beruhigen, den Atem zu kontrollieren, vergebens, die Schmerzen ließen es nicht zu. »Nicht einschlafen, nicht einschlafen ...«
»Schlafe ein und du spürst keine Schmerzen mehr«, ließ sich die Stimme in seinem Inneren vernehmen, sie klang verführerischer als zuvor. Er war mit der Kraft am Ende. Vor seinen Augen wurde es schwarz, die gnädige Ohnmacht trug ihn hinaus in eine schmerzlose Nacht. Er spürte nicht mehr, dass der linke Arm über der Felskante im Leeren baumelte, dass die Hand von den Augen gerutscht war, die sich jetzt schutzlos den Geiern darboten.
Die saßen wie aus Stein gemeißelt. Ruckartig breiteten sie ihre Schwingen aus und stürzten sich auf ihr Göttermahl.

Vasilios wurde von einer betörenden Musik geweckt. Er lag gebettet auf flauschigem Heu, über sich Sterne, im Südosten stand der Vollmond, der sanfte Nachtwind trug den strengherben Geruch von Thymian heran.
›Wo bin ich? Wieso spüre ich in der Brust keine Schmerzen? Was ist mit meinem Bein los? Wieso kann ich es bewegen?‹ Jählings packte Vasilios eine ungeheure Erleichterung: ›Ich habe das alles nur geträumt, habe mich nur ausgeruht, bin eingeschlafen.‹ Doch die Gedanken rasten und eine andere Idee wurde ihm zur entsetzlichen Gewissheit: ›Nein, nein, nicht eingeschlafen, ich bin gestorben.‹
Er versuchte, sich mit den Armen abzustützen und den Oberkörper aufzurichten. ›Nanu, wieso geht das? Woher kommen die zauberhaften Töne?‹ Er blickte in die Richtung, aus der die fremdartige Musik zu kommen schien. Als er sah, was sich da gegen den Nachthimmel im bleichen Licht des Vollmondes abhob, geriet sein Weltbild aus den Fugen.
Auf der Anhöhe stand eine Gestalt aus der Sagenzeit der Antike: ein Kentaur, ein Mischwesen aus Mensch und Pferd. Er hatte ein überraschend jugendliches Gesicht, wallende Haare, um seine Schulter lag ein braunes Widderfell. Er hielt eine Lyra in der Form einer Schildkröte in den Händen, die Arme des Instrumentes waren wie Hörner gebogen.
Vor dem Kentaur saß auf dem Ast eines abgestorbenen Bäumchens ein stattlicher Rabe, mit schräggelegtem Kopf schien er der Musik zu lauschen.
Der Kentaur schlug die Saiten und entlockte der Lyra eine Musik, die Vasilios mit seiner Seele in Einklang brachte. Er spürte eine heilende Kraft, die Schwingungen der Töne umhüllten sein Äußeres und durchdrangen sein Inneres.
Vasilios hörte Worte in der altüberkommenen Sprache seines Landes. Worte und Musik verschmolzen zu einer Einheit, einem wunderbaren Lied, es nahm ihn mit auf eine Reise durch die Zeit.
Bei Tag und bei Nacht
Durchwandere ich das Gebirge,
Unbemerkt von Mensch und Tier.
Die Jahreszeiten,
im ewigen Wechsel, doch niemals gleich.
Der erste Schnee fällt.
Bald schon sind die Wälder
Mit zart purpurfarbenen Anemonen übersät,
Die Wiesen geschmückt
Mit lavendelfarbenen Winterkrokus.
Bauschige Wolken, weiß und rosa,
Der Mandelblüten
Übersäen die Hügel.
Die purpurblaue Iris leuchtet in der Morgensonne.
Die köstlich duftende, gelbe Narzisse,
Verschenkt in Massen den Nektar.
Orchideen, kostbar wie geschliffene Edelsteine, leuchten.
Die ersten Zikaden begrüßen den Sonnenglanz
Des nahenden Sommers.
Judasbäume verspritzen rot über das Land,
Ginster verschenken an die Hügelhänge ihr Gelb,
Goldene Ringelblumen decken die Felder.
Thymian, Minze und Salbei blühen und duften,
Zur Freude der Bienen.
In der Luft hängt der schwüle Duft der Robinien,
Delphinium strahlt in Violett.
Gelben Königskerzen schmücken sich
Mit bunten Schmetterlingen.
Das Orchester der Zikaden
Füllt den Nachmittag mit Schläfrigkeit.
Herbstasphodele zeigt unverzweigte Ähren,
Alraune ihre purpurne Kostbarkeit.
Fliederfarbene Überflutung durch die Zyklamen,
Herbstkrokus und weißer Safran auf Wiesen und Wäldern
Beenden das Jahr.
Der erste Schnee fällt.
Vasilios war, als wandere er mit dem Kentauren über Wiesen und durch Wälder, folgte Bachläufen, kletterte über Berge, durcheilte Täler, ruhte unter Wasserfällen. Und alle Pflanzen, die er blühen sah, verrieten ihm, dass sie wunderbare Kräfte besaßen, den sehnsüchtigen Wunsch hatten, dass er, Vasilios, ihre Heilkräfte erkennen und nutzen werde.
Der Kentaur und der Rabe blickten Vasilios an. » Ich bin ein Gestaltwandler aus einer dir nicht erfassbaren Welt. Was du Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft nennst, existiert nicht für mich. Für die Begegnung mit dir musste ich deine und meine Zeit angleichen. Meine wahre Gestalt würde kein Mensch erfassen, deshalb erscheine ich dir in zweifachen Spielart, Kentaur und Rabe.«
Obwohl das Wesen nur zehn Meter von Vasilios entfernt stand, schien die Stimme von weither zu kommen. Oder hörte er sie nur in seinem Inneren?
»Freud und Leid von Mensch und Tier berühren mich nicht. Die Dauer eures Menschenlebens ist für mich wie ein Wimpernschlag. Das Leben ein Erscheinen und Verschwinden im endlosen Wandel.«
Die tiefschwarzen Körper von Kentaur und Rabe schienen von innen heraus zu leuchten. Die Konturen waren nicht scharf begrenzt, sie flimmerten wie Luft über heißem Asphalt im Sommer. Ihre Augen strahlten in einem derart leuchtenden Blau, dass Vasilios sich geblendet abwenden musste.
»Warum hast du mir geholfen? Das hast du doch, oder?«
Kentaur und Rabe nickte bejahend. » Hilft es dir, wenn ich sage, dass ein bisschen Schwarzer Sternenstaub dich gerettet hat? Nein, du bist nicht ausersehen, das zu begreifen! « Prüfend blickte er Vasilios an. » Nur ausnahmsweise werde ich auf Menschen aufmerksam. In deren Seele muss ein Muster eingeprägt sein, das sich mit einem der vielen Muster, die in meiner Seele eingraviert sind, verbindet. In diesen Menschen schlummern wertvolle Fähigkeiten und mein Bestreben ist es, ihnen ihre Möglichkeiten bewusst zu machen. «
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