1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Athina war zu einem abschließenden Urteil gekommen: Weichliche Gesichtszüge, kann einem nicht in die Augen sehen, geduckte Körperhaltung, Outfit eines Hinterwäldlers, Habenichts. Sie schied ihn aus der Menge der für sie achtenswerten Menschen aus. Die war ohnehin nicht umfangreich.
Atridi war verschnupft. »Frau Papaluka? Was soll das? Früher hast du mich geduzt. Belass es bitte dabei.«
›Wie bitte? Ich soll sie duzen? Ja, als Kind hab ich das gemacht. Doch jetzt? Die ist doch mindestens fünfzehn Jahre älter als ich. Schön, wenn sie darauf besteht.‹
Sie setzte ihre Wortkaskade fort: »Schade, dass du ein Mann bist! Wir suchen ein medizinisch ausgebildetes Crew-Mitglied für die Nemesis . Du weißt, der Familienjacht der Papalukas. Doch leider, männliche Wesen dulden wir auf dem Schiff nicht! Nächste Woche brechen wir unseren jährlichen Insel-Törn durch die Ägäis auf. Frag am besten eine deiner Studienkolleginnen! Unter Umständen hat eine Lust mitzukommen?«
›Um Himmelswillen, ich soll einer Kommilitonin empfehlen, ihren Fuß auf dieses Lotterschiff zu setzen?‹ Er legte eine Hand an die noch immer leicht pochende Stirn und streichelte mit der anderen Lena über die Backen. Das Baby verzog das Gesichtchen zu einem Lächeln.
»OK, Atridi, ich werde mich umhören.« Die ungewohnte Anrede Atridi kam ihm zögerlich über die Lippen. »Entschuldigt, ich habe es eilig.« Unhöflich machte er kehrt und eilte davon.
»Besuch meinen Bruder! Nicht vergessen!«, rief Atridi ihm hinterher.
Die Begegnung mit den beiden attraktiven Mittdreißigerinnen beschäftigte Vasilios noch eine Weile. Im Grunde war ihm diese Atridi Papaluka als sympathische Persönlichkeit erschienen, die umlaufenden Gerüchte über ihre sexuellen Ausschweifungen hielt er jetzt für übertrieben. Auch das andere Gerede konnte er nicht glauben. Nie im Leben war dieser blonde Engel eine Hexe! Na ja, sympathisch war sie ihm nicht vorgekommen, eher eingebildet. Abgesehen davon, als Mann der Wissenschaft glaubte er nicht an Übersinnliches. »Blöder Dorftratsch«, murmelte er. Trotz alledem spukte er aus Vorsicht dreimal aus, um den Bösen Blick, der ihn unter Umständen doch getroffen haben mochte, zu bannen. Man konnte nie wissen.

Vasilios begann den Fußweg zum Bergdorf Zagora hochzusteigen, bei jedem Schritt bergauf wurden die Stiche hinter der Stirn erträglicher. Jetzt sah er die Schönheit der Natur, sah die Ziströschen, die Mauerblümchen, das Immergrün blühen. Er sah an den Berghängen die vereinzelten roten Tupfen der verblühenden Judasbäume und dazwischen Flecken vom lichterfüllten Gelb des Ginsters. Er roch den betörenden Duft der blühenden Robinien, hörte die Vögel, das einsetzende Konzert der Zikaden. Vorsichtiger setzte er seine Schritte, um die Eidechsen nicht bei ihrem Sonnenbad zu stören.
Man vernahm die Glöckchen einer sich nähernden Ziegenherde. »Grüß dich, Vasilios!«, rief eine Stimme von oben zu ihm hinunter. »Ich dachte mir schon, dass es dich heute in die Berge zieht. Der erste Meltemi im Jahr!«
Akylas, der Hirte, war ein Mann von knapp sechzig Jahren. Hochgewachsen und schlank stand er auf seinem Krummstab gestützt da, an der Seite die beiden Hunde Iason und Amira. Er hatte ergrautes Haar, das unter seinem breitkrempigen Hut frech hervorlugte. Ziegen erschienen und rupften Blätter von den Sträuchern.
»Ich habe mir vorgenommen, den Gipfel des Pouri zu erklettern. Dort oben werden die Kopfschmerzen erträglicher sein«, gab Vasilios Auskunft. Er warf dem Hirten einen prüfenden Blick zu. »Hast du was? Du siehst besorgt aus.«
»In der Nacht hatte ich unterhalb des Pouri mein Lager aufgeschlagen. In der Ferne hörte ich Wölfe heulen, gegen Morgen waren die Hunde unruhig. Beim Aufbruch habe ich zwei Tiere vermisst. Schau dich um. Nicht ausgeschlossen, dass die Wölfe sie gerissen haben! Ich kann hier nicht weg, zwei Ziegen werden heute noch werfen.«
»Ich werde die Augen offenhalten, Akylas. Wenn mir etwas auffällt, komme ich beim Abstieg bei dir hier vorbei. Wenn nicht, steige ich direkt nach Horefto ab. Wir sehen uns!«
Vasilios stieg weiter bergauf, es wehte eine frische Brise. Seine Kehle war trocken, er setzte die Flasche an die Lippen und schaute dabei in den tiefblauen Himmel. Zwei imposante Vögel zogen dort ihre Kreise, er bildete sich ein, Flügelrauschen zu hören. Der Wasservorrat war nach einem Schluck aufgebraucht, er erinnerte sich an eine Quelle jenseits des Geröllfelds. »Dort werde ich die Flasche auffüllen«, nahm er sich vor.
Vorsichtig und darauf bedacht, keine Steine loszutreten, bewegte sich Vasilios über das abschüssige Geröllfeld, die Augen zu Boden gerichtet. Alarmiert blieb er stehen, auf den Steinen glänzten Blutstropfen.
Er schaute zum Himmel empor, nach wie vor kreisten die zwei Vögel über ihm, doch hatten sie ihre Flughöhe verringert und schienen auf etwas zu warten. Er folgte der Blutspur und sah, halb verdeckt durch einen Felsbrocken, eine Ziege liegen. Sie war tot. Als er sich näherte, störte er die Schmeißfliegen, die sich mit wütendem Sirren von ihrem üppigen Mahl erhoben.
Links von ihm, dort wo der Berg steil in eine Schlucht abfiel, hörte er ein jämmerliches Schreien. »Das muss die andere Ziege sein! Zum Glück, sie lebt noch.« Er wandte sich in die Richtung, aus der das Klagen kam. Er bewegte sich behutsam, die Bergflanke war abschüssig. Endlich sah er das Tier auf einem Felsvorsprung am Rande des Abgrundes liegen. Es war verwundet, eine Blutlache zog sich zur Abrisskante der Steilwand hin. Auch bei dieser Ziege hatten sich Aasfliegen eingefunden, erwartungsfroh über das kommende Festessen. ›Die Arme, sie ist in ihrer Todesangst auf den Felsvorsprung gesprungen‹, dachte Vasilios. Vor den Wölfen war sie in Sicherheit, doch wieder hochzuspringen, nein, das würde sie nicht schaffen, selbst ohne Verletzung.
Die Ziege hatte ihn kommen hören, voller Panik versuchte sie, sich aufzurichten. Doch ihre Beine konnten sie nicht mehr tragen, sie brach zusammen, rutschte über die abschüssige Felskante und sich in der Luft überschlagend verschwand das Tier in der Tiefe. Vasilios wandte den Kopf ab, einen Aufschlag hörte er nicht. ›Das Beste für das Tier, ein gnädiger Tod, es muss nicht mehr leiden‹, dachte er und drehte sich vom Abgrund weg.
In diesem Augenblick brach der Stein, der dem linken Fuß Halt gegeben hatte, ab. Er kam ins Rutschen. In Panik suchten seine Hände nach Halt, vergebens, rasch und immer rascher ging es bergab. Die Haut riss in blutigen Fetzen von den Händen, verzweifelt versuchte er, sich an den Felsen festzukrallen. Vergeblich, er rutschte über die Felskante, fiel, schlug auf den Felsvorsprung auf, mitten in das geronnene Blut, das die Ziege hinterlassen hatte. Mit einem hässlichen Krachen brach das rechtes Bein.
Vasilios verlor, wie es ihm vorkam, nur für Sekunden das Bewusstsein. Doch als er wieder zu sich kam, war es spätabends, die Sonne war untergegangen. Er sah sich auf dem Felsvorsprung liegen, ahnte den gähnenden Abgrund neben sich, spürte grausame Schmerzen in der Brust und in dem Bein. Blut floss über sein Gesicht. Ein Blick nach oben zeigte ihm, dass er aus eigener Kraft dort niemals hinaufkommen würde, auch ohne gebrochenes Bein und ohne gebrochenen Rippen. Als angehender Mediziner wusste er auch, dass er höchstwahrscheinlich eine Gehirnerschütterung hatte, wenn nicht noch etwas Schlimmeres. Was waren die Anzeichen einer Gehirnerschütterung? Übelkeit, Schwindel, Erbrechen, Orientierungslosigkeit. Er stellte sich laut Fragen: »Wer bin ich? Wo bin ich? Was ist heute für einen Tag? Was ist passiert?« Seine Aussprache war fehlerfrei, die Antworten korrekt, eine schwerwiegende Hirnverletzung lag nicht vor. Doch schwindelig war ihm, verdammt schwindelig. Das war schlecht.
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