Lena schnaubt wie ein Ross und schwärmt von der fabelhaften Luft: „Mmh, würzig, aah, harzig.“ Wir riechen die abendkühlen Grasböden und die Nadelbäume und spüren den nahenden Herbst oder gar Winter, der womöglich bereits hinter dem nächsten Berggipfel lauert und in dieser Höhenlage ohne Vorwarnung einbrechen kann. Soll er losschlagen, Väterchen Frost, mich erwischt er nicht, denn ich werde außer Griffweite sein, in Mandalay, und tropensonnenreife Kokosnüsse knacken, während die Leute hier Schnee schaufeln müssen und das Eis von ihrer Karre kratzen …
Mit gedämpfter Stimme reden wir über Belanglosigkeiten wie die linden Klimaverhältnisse an der Côte d’Azur, die es erlauben, den Winter hindurch im Meer Wassergymnastik betreiben zu können, und erörtern die atemberaubende Schönheit der Alpen aus dem Vogelblick vom Flugzeugfenster aus. Unter pausenlosem Geplauder, phasenweise im Duett, erreichen wir das Dorfzentrum und passieren eben die Friedhofsmauer, da flammen zwei Autoscheinwerfer auf und brausen uns entgegen. Eine Lichthupe feuert aus allen Rohren, vier Blinkleuchten springen an und ein massiger Van bremst auf den Punkt vor unseren Zehen. Heraus hüpft Klaudia, flink und wendig wie meine bestgeschulten Rettungssanitäter, was umso auffallender ist, als meine Schwägerin an einer beträchtlichen Leibesfülle zu tragen hat. Sie umarmt mich und es fühlt sich an, als wäre ich total von molliger Klaudia-Materie umschlossen.
„Servus, ihr zwei Reisenden!“, begrüßt sie uns mit Überschwang. „Hab ich euch doch noch aufgelesen!“ Sie entschuldigt sich, nicht bis zum Bahnhof gekommen zu sein, aber das Zubettbringen der Kinder habe sich verzögert, die drei Kleinen wollten einfach keine Ruhe geben. „Die Mädels sind mächtig aufgeregt“, grinst Klaudia. „Sie können die Tanten nicht erwarten.“ Wir verstauen uns und unser Gepäck im Wagen, wo es streng nach Dung riecht, nach Stall und Vieh, nach dem Zuhause meiner Kindheit. Wir schwatzen wirrewarre Kraut und Rüben, während unsre Frau am Steuer die kurze Strecke zum Bauernhof rast wie eine Gehenkte. Erst als sie das Geschoss stoppt und den Motor abstellt, ist es schlagartig still, sehr still. Well, here we are.
Wir parken mitten auf dem großräumigen Platz zwischen dem langgezogenen Einhof auf der einen, und den diversen Nebengebäuden auf der anderen Seite, wo sich die Zufahrtsstraße abrupt in Luft auflöst. Dead end am harten Waldesrand.
„Ich sehe nichts“, murmelt Lena und setzt vorsichtig einen Fuß vom Autoinneren hinaus ins nackte Schwarze. Es ist finster wie bei Neumond am Äquator.
„Der Bewegungsmelder funktioniert momentan leider nicht“, begründet die Juniorchefin die Zappendusternis, als sie Lena und mich unbeholfen tapsen sieht wie zwei Monate alte Kätzchen bei ihrem ersten Ausflug auf unbekanntes Terrain. „Hereinspaziert in die Küche“, lädt sie uns ein und warnt vor herumliegenden Gerätschaften, über die wir stürzen könnten. Wir schlängeln uns unfallfrei durch das Gelände über eine der Hausecken hin zur Eingangstür. Ich fände auch blind dorthin, denn nichts hat sich verändert, außer dass es vor der Hochzeit von Klaudia und Peter aufgeräumter war.
Vor etwa zehn Jahren hatte mein schüchternes und nicht mehr ganz taufrisches Brüderchen das Glück, dass sich die Städterin Klaudia in ihn verliebte und bereit war, einen Bauern zu ehelichen, auf den Hof zu übersiedeln und sich das Landwirtschaften anzueignen. Meine Eltern zeigten sich überaus erleichtert, dass der Hoferbe die für eine Familiengründung notwendige Frau zu Wege brachte, wo sie schon um den Nachwuchs bangten, der die Tradition der Plancks fortführen sollte. Vor acht Jahren wurde geheiratet, drei Mädchen hat Klaudia seitdem geboren, aber der richtige, der männliche Nachfolger hat bis dato nicht das Licht der Welt erblickt. Doch das wird, das wird zweifelsohne werden, schließlich zählt Klaudia erst knapp über dreißig Lenze, sie ist gebärfreudig und kindersüchtig und sippenselig darüber hinaus. Je zahlreicher sich nahe und ferne Verwandte im Hause einfinden, desto munterer versucht Klaudia, sich um das Wohl und Wehe aller zu kümmern, und jeder Nachbar, jeder Bekannte, der auf dem Hof vorbeischaut und etwas bringt oder braucht, wird von der Jungbäuerin mit freundlicher Aufmerksamkeit bedacht.
Wir stolpern vom breiten Flur, der mit sperrigem Spielzeug gepflastert und mit Kleinmobiliar vollgestopft ist, in die große Küche. Sie ist seit jeher, und das will sagen, seit dem späten Mittelalter, der zentrale Raum des Anwesens. Die gegenwärtige Einrichtung stammt aus jener Zeit, in der mein jüngster Bruder Pius geboren wurde, und das liegt sechsunddreißig Jahre zurück. Entsprechend abgenutzt schaut alles aus. Hier hat meine Mutter ihre sechs Sprösslinge aufgezogen, drei Mädchen voran, dann drei Buben; und hier sorgt sie jetzt als Großmutter für Klaudias Mädel und hofft auf einen zukünftigen enkeligen Kronprinzen.
Der kalte Dunst von Abendessen hängt in der Luft. Benutztes Geschirr stapelt sich im Abwaschbecken und auf dem Esstisch sieht es aus, als hätte eine Horde Barbaren gewütet. Mir dämmert übel, dass es im restlichen Haus nicht viel weniger vermüllt sein könnte.
Klaudia bugsiert uns auf die Eckbank. „Ihr zwei Hübschen habt sicher Hunger. Irgendwo ist der Käse, da, auf dem Tisch, und Brot. Butter ist alle. Mögt ihr einen Tee? Ich hab Kamillentee und Pfefferminze und Früchtetraum mit Ananasaroma.“ Sie wühlt in einer Tupperbox.
Lena lächelt verbindlich. „Gerne, ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen.“ Mir fällt auf, dass ihre Unterlider geschwollen sind, und wie! Tränensäcke – was heißt Säcke, Beutel sind das, pralle Beutel! – zum Erschrecken! Vielleicht liegt es auch am funzeligen Deckenlicht, dass meine ältere Schwester plötzlich ein wirklich altes Aussehen hat.
„Früchteananas“, sage ich, und Klaudia wirft den Wasserkocher an. Eine Minute später steht der dampfende Hafen, in dem mehrere giftgelbe Teebeutel schwimmen, vor uns auf dem Tisch. Lena säbelt zwei Schnitten vom Brotlaib und reicht mir eine davon. Wir nagen am Brot und an den Käsebröckchen und horchen Klaudia zu, die ohne Punkt und Komma quasselt, während sie hinter der Arbeitsplatte, die den Essplatz von der Kochzone trennt, hin und her wieselt. „Ich will einen Schokokuchen backen“, erklärt sie. „Es stört euch hoffentlich nicht, wenn ich backe?“
Sie wuchtet ein edelstählernes Ungetüm heran, das ich erst auf den zweiten Blick als sogenannte Küchenmaschine identifizieren kann. Die Ausmaße der Rührschüssel sind beeindruckend. „Bernadette bringt zwar einen Nusskuchen, ihr wisst ja, Nusskuchen mag Tatti am liebsten, aber das wird nicht genug sein, fürchte ich. Ich mache zur Sicherheit noch einen anderen Kuchen, einen Schokokuchen, Schokokuchen lieben alle, es ist Papas Lieblingskuchen.“
Seit der Geburt des ersten Kindes nennt Klaudia ihren Ehemann „Papa“ und ich wette, sie wird umgekehrt von ihm mit „Mama“ angesprochen. Auch meine Eltern kenne ich nur als „Tatti“ und „Mammi“ und ich muss mir manchmal tatsächlich in Erinnerung rufen, dass mein Vater Peter heißt und meine Mutter Traudi.
Wie schön, demnach gibt es morgen zum achtzigsten Geburtstag von Peter Planck senior eine selbstgebackene Nusstorte nebst einem ebenfalls selbstgebackenen Megaschokokuchen.
Ich will Klaudias Ausführungen über die Vorzüge der Küchenmaschine unterbrechen und ihr weitere Einzelheiten zum morgigen Festprogramm entlocken, doch das ist unmöglich, denn die gerühmte Maschine startet ihre Mixarbeit mit gefühlten hundert Pferdestärken und erzeugt einen dementsprechenden Geräuschpegel. Ich hätte schreien müssen, um mich verständlich zu machen. Klaudia zieht resolut den Stecker, packt das Biest und verschwindet mit ihm in der angrenzenden Speisekammer, wo es wenig später erträglich gedämpft hinter zugezogener Tür weiterrattert.
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