Anderes ist ihm wichtiger, und dabei spielt die Rivalität zum vorbildlichen Bruder, der nach dem Abitur studiert, zeitlebens eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Geschwister messen sich, wollen gleich behandelt werden und genießen es dann doch bevorzugt zu werden. Der Wert des Einen ist der Unwert des Andern. Sie kaschieren diese Triebfeder und sind sich ihrer meist nicht bewusst. Und so setzt Helmut dem vermeintlichen Vorteil oder Vorsprung seines Bruders zeitlebens seine Schläue und manuelle Geschicklichkeit entgegen und kann sich ihm dadurch überlegen fühlen.
Bei jeder Gelegenheit versucht er, mit irgendeiner seiner zahlreichen Anekdoten seinem Zuhörer weiszumachen, er sei zur Schul- und Lehrzeit ein Tunichtgut gewesen. In solch einer Rolle gefällt er sich, hat aber im Grunde die gesellschaftlichen Regeln vollständig verinnerlicht und sich sein Leben lang daran gehalten. Undenkbar, dass Helmut jemanden übervorteilt, unzuverlässig oder unordentlich ist. Unter seinen Sachen, seinem Werkzeug – was auch immer – hat alles seinen Platz und mitunter auch ein Futteral. Und nicht nur mit dem, was ihm gehört, geht er sorgfältig um, pflegt in späteren Jahren sein gemietetes Haus bis ins hohe Alter, als wäre es sein eigenes, und lässt fällige Reparaturen auch schon mal auf eigene Kosten vornehmen.
„Ist ja nicht verkehrt fleißig zu lernen“, räumt er später gelegentlich ein. „Für mich war Schule in Wirklichkeit 'ne Qual. Ich hab da nich jerne jelernt. Die janze Freizeit wurde mir jenommen. Ich hab mich lieber rumjetrieben. Und das war für meine schulischen Leistungen nich jrade sehr förderlich. Mein Bruder war da eher ein Gelehrter, hatte Freude an Büchern und gerne gelernt. An ihm sollte ich mir immer ein Beispiel nehmen. Doch in meiner Jugend habe ich eine Menge Dummheiten angestellt . Da haben sich meine Eltern entschlossen, mich auch nich Abitur machen zu lassen. Sondern die haben jesagt: Du kommst raus nach der mittleren Reife, du machst irgendetwas anderes. Und da ich immer fürs Handwerkliche war, habe ich gesagt: Ich werde Maurer lernen. Ist doch was, nich wahr?“
„Was Handfestes“, bestätigt ihm sein Neffe der den Achtzig-jährigen einzig und allein deswegen aufgesucht hat, um mit ihm ein Gespräch über seine Sicht der damaligen politischen Abläufe zu führen. Aber Helmuts Redefluss ist wie ein Wasserfall. Offensichtlich freut er sich, in seinem Neffen einen geduldigen Zuhörer gefunden zu haben. Der sieht den großen, schwer gewordenen Mann an, seine Glatze und die großen Ohren und weiß, dass der sich jetzt nicht bremsen lassen wird, zum wiederholten Mal seine Geschichtchen im herben, gutturalen ostpreußischen Tonfall, wobei er bis-weilen in Mundart verfällt, zum Besten zu geben.
„Kannst du wohl sagen. Maurer und Zimmermann habe ich gelernt beim Obermeister Sidnik. War ein altes Geschäft in Königsberg. Die hatten Pferde. Wir mussten den Pferdestall sauber machen. Autos gab’s nich. Entweder Handwagen oder Pferdefuhrwerk, was anderes nich. Hatte dort eine ganz lustige Lehrzeit. Dann die Bauschule besucht, was heute Fachhochschule heißt. Und dort hat sich erst herausgestellt, wo meine Fähigkeiten liegen. Vielleicht war ich auch ein Spätzünder. Kommt ja vor. Mich interessierten technische Dinge und etwas, bei dem ich zeichnen konnte. Plötzlich hatte ich hervorragende Zeugnisse im Gegensatz zu meiner Schulzeit, wo sie mehr als miserabel waren. Mein Examen später als Ingenieur machte ich auch mit Gut.“
Der Neffe muss lächeln. Noch im Alter scheinen den Mann sein schulisches Versagen und sein Erfolg im zweiten Anlauf zu bewegen. „Da war es vorbei mit dem Kummer, den ich meinen Eltern jahrelang bereitet hatte.“
Und dann macht er es sich in seinem Sessel bequem, formuliert aus dem Stegreif und ohne Verlegenheitslaute seine Sätze, lässt seine Augen ziellos umherschweifen, während seine linke Hand unentwegt über die Sessellehne streicht, und ist schon mitten in seiner Lehrzeit.
„Da haben wir mal eine Konditorei wieder herrichten müssen. Der Besitzer hatte Pleite gemacht und war raus. Der Polier, zwei Gesellen und ich, der Lehrling Reimann, zogen ein, und die Büffets waren noch voll. Da standen die Torten und der Schnaps herum. Na, wir haben uns eingeheimst, was wir konnten. Jeder nahm sich zwei, drei Flaschen mit, auch ich. Abends mit meinem Bruder im Bett haben wir Likör oder Rotwein getrunken und so die Vorräte nach und nach vertilgt. Als die Büffets leer waren, habe ich mir gedacht, da müsste doch noch mehr sein. Und als ich einmal zu den Sicherungen in den Keller musste, saß da son' drugglige Marjell, die musste aufpassen, dass da keiner in den Weinkeller einbrach. Handwerker striezen, sind ja alles Diebe. Aber da haben wir uns nichts draus jemacht. Ich hab mich jedenfalls an das Mädchen heranjepirscht, bisschen rumscharwenzelt, hab ihr schöne Augen jemacht, sie ein bisschen jelobt und jestreichelt und ihr versprochen, ihr was Schönes zum Lesen mitzubringen, sie solle mir nur sagen, wie ich an den Schlüssel herankäme. ‚Och‘, secht die, ‚horch e bösche, ich hol ihn dir.‘ Und so hab ich mir immer was aus dem Weinkeller für mich und meinen Bruder eingefuppt. Ich fragte die noch: ‚Is das nich alles aufjeschriem?‘ ‚Nö, da wees keen Mensch, was da drin is.‘
So hab ich mit der rumpoussiert. Sie freute sich, dass ich nett zu ihr war, und ich freute mich, dass ich den Wein bekam. Na, in dem Alter, wo man sich so richtig für die Mädchen interessiert, war ich ja noch nicht, wir waren damals alle noch Spätentwickler. Davon kann ich was sagen: In dem Haus, in dem mein Freund Arno Stamm wohnte, genau gegenüber, da wohnte übrigens auch die Lotte Rakowski, ein blondes Mädchen, das ich fleißig zur Schule begleitete. Und die schrieb mir so Verschen – ich hab sie nicht behalten. Und ich wuchs so langsam heran und die Marjell auch, und eines Tages verlobt die sich. Erbarmung! Ich fiel beinahe vom Stengel, ich dachte, wir beide gehörten zusammen, wo wir uns doch schon so lange befruntschelt hatten. Da hatte die inzwischen wohl was anderes kennen jelernt, und ich war abjehalftert. Das war so meine erste Enttäuschung im Leben, aber ich glaube, ich habe mich schnell darüber hinweg gefunden.“
Des Neffen Respekt vor dem Alter verbietet ihm, den Onkel zu unterbrechen. Er sieht ihm an, wie die Vergangenheit für ihn lebendig geworden ist. Jetzt ist nicht der Moment für Historie, sondern nur für Histörchen.
„Auf dem Bau arbeitete bei uns Kardel, ein richtig starker Kerl. Der war in keiner Gewerkschaft, kein Kommunist, gar nichts. Den haben die anderen immer angefeindet, sich aber nicht getraut, sich mit ihm anzulegen, der hätte sie alle verwimst nach Strich und Faden. Und eines Tages sagt der: ‚Ich zeig euch mal was.‘ Nahm ein Zehnpfennigstück zwischen die Zähne, drückte mit dem Daumen dagegen, bog das Zehnpfennigstück um, machte daraus eine Rolle, alles mit den Zähnen. Oder er nahm ein Bierglas, biss davon ein Stück ab, zerkaute es und schluckte es hinunter.
Dieser Kardel und wir Lehrlinge nahmen nicht am Umzug zum 1.Mai teil, war ja noch kein offizieller Feiertag. Die anderen wurden von den Gewerkschaften vom Bau geholt, aber der Bärenstarke stellte sich vor uns, wenn einer uns wegholen wollte: ‚Wat well ju, ech wer dir helpe, wenn ju frech wardst.‘
Und noch was: auf dem Bau gab es damals ja noch keine Stahlgerüste. Wurde alles mit Holzpfählen aufgestellt und mit Brettern ausgelegt. Und dann saßen wir mit dem Hammer in der Hand und schlugen den alten Putz ab. Einmal haben wir eine Burgkirche neu verputzt. Da ist mir ein großes Missgeschick passiert. Beim Aufstellen des Gerüstes wurden die Bretter ausgelegt, und ich bin auf einem Brett etwas zu weit nach vorne gekommen. Das Brett kippte ab, und ich sauste in die Tiefe. Ich sah unter mir nur noch die Pflastersteine und dachte: Aus, lieber Freund, jetzt ist es zu Ende. Aber ich hatte Glück. Eine Etage tiefer fiel ich mit dem Rücken auf einen Riegel, blieb mit meiner Maurerjacke und dem Hosenträger an diesem Riegel hängen, und guckte in die Tiefe und dachte: Ach Gottchen, werden die Knöppe an der Jacke halten? Aber das hat nicht lange gedauert, da wurde ich von meinen Arbeitskollegen befreit.“
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