Aus dem Leben einer bürgerlichen Familie in der wechselvollen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ordnung und Aufs-Wort-Gehorchen waren Prinzipien der Erziehung. In den politischen Umwälzungen dieser Zeit werden die geschilderten Personen weder zu „Tätern“, noch zu „Opfern“. Als Durchschnittsbürger gehören sie in der Nazi-Zeit zur Masse der sogenannten Mitläufer, die – wie zu allen Zeiten – versuchen, ihr Leben an die politischen Gegebenheiten anzupassen.
Da ist Franz, der mit der Schutztruppe in Deusch-Südwestafrika den Aufstand der Hereros niederkämpfen hilft und mit deutschem Stolz in der ‚Festung’ Königsberg bis zum Schluss durchhält.
Sein Sohn Helmut, Ingenieur bei der Reichsbahn, versteht es, sich überall Freunde zu schaffen und sich trotz seiner Jugend von der Front fernzuhalten. Am Ende schießt er mit amerikanischen Soldaten auf deutsche Stahlhelme und bringt die Entnazifizierung spielerisch hinter sich. Von Transporten in Zügen weiß er nichts. Sein Leben erscheint wie eine Aneinanderreihung von Anekdoten.
Der liberale Karl, in erster Linie Sachse, kann sich nicht für Krieg begeistern.
Sein strebsamer Sohn Hans wird der Lehrer und besitzt so viel Ehrgeiz, dass er sich ohne Notwendigkeit noch mit vierzig Jahren zu einem Offizierslehrgang meldet. Voraussetzung: drei Monate Frontbewährung, die er zuletzt im Südostabschnitt absolviert.
Elsa, Franzens Tochter, die Hans heiratet, am liebsten Hausfrau und Mutter ist und in den Nachkriegsjahren für drei Kinder sorgen und sich einen Beruf suchen muss, von der ‚neuen’ Zeit aber geradezu erstickt wird und jung stirbt.
Emma, Franzens Frau, die die Brandbomben auf Königsberg erleben muss, emsig bemüht ist, ihr demoliertes Häuschen wieder instand zu bekommen, sich in buchstäblich letzter Minute auf eine abenteuerliche Flucht begeben muss und alles verliert – die ostpreußische Heimat, Mann und Tochter. Und dennoch erträgt sie die Entbehrungen in den Nachkriegsjahren mit unerschütterlichem Gottvertrauen.
Ulrich W. Kunath
Frontbewährung
Eine Familiengeschichte
Für
Marie
Inhalt
Franz
Karl
Helmut
Hans
Elsa
Die Brüder
Fast zufrieden
Idyllische Jahre
Frontbewährung
Züge müssen fahren
Ernüchterung
Läpuschna
Emma
Wie auf einem Pulverfass
Das Tagebuch
Emmas Flucht
Verlust der Heimat
Entnazifizierung
Stumme Zwiesprache
Franz
Von acht Mann gleichzeitig ausgeführt, klingt es wie ein kurzer dumpfer Schlag. Davon wird kein Schlafender wach. Und so geräuschlos, wie diese schwarzen Schatten im Licht der vom Halbmond beschienen Steppe zu ihrer Bluttat herangeschlichen sind, verschwinden sie wieder. Als Franz Reimann morgens erwacht, liegen die Köpfe seiner Kameraden halb abgetrennt im Sand. Der kleine Trupp des Pommerschen Jäger-Batallions hat im Freien kampiert. Franz hatte sich etwas abseits unter einen Felsblock hingelegt, sich seinen Schlafsack über die Ohren gezogen und war regelrecht in ihm abgetaucht. Der mörderische nächtliche Besuch muss ihn übersehen haben.
Es ist der 28. März 1904, und Franz beeilt sich, zu seiner Kompanie zurückzukommen. Allein kann er nun nicht mehr das Gelände durchkämmen und aufklären, wo sich der Feind aufhält. Der Schrecken sitzt ihm in den Gliedern. Es ist seine erste Lektion über den Kampf aus dem Hinterhalt. Die Tücke lässt ihn erschaudern. Dass Telegraphenleitungen gekappt und Schienen herausgebrochen werden, kann er ja noch verstehen. Die Überfälle auf die deutschen Siedler, das Abbrennen ihrer Höfe und Töten der Männer jedoch nicht. Daher bereut er es nicht, sich freiwillig aus dem frostigen, verschneiten Ostpreußen zu diesem Einsatz unter afrikanischer Sonne gemeldet zu haben. Es gilt, die Schutztruppe in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika zu verstärken, die seit Anfang Januar den Aufstand der Hereros niederringen muss. Jetzt erst recht, denkt er und weiß sich eins mit der weit verbreiteten Meinung, dass die schwarze Rasse der weißen geistig und kulturell unterlegen sei. Die Dampflok halten sie für einen bösen Geist und laufen davon! Als er das gleich nach seiner Ankunft in Swakopmund sah, schüttelte er sich vor Lachen.
Noch nicht dreiundzwanzig Jahre alt und ein ausgezeichneter Schütze, dank seiner ruhigen Hand und guten Sehkraft, und damit bestens geeignet für das Jäger-Bataillon, das in kleinen Gruppen die Vorhut bildet, auskundschaftet und, wenn möglich, mal einen gezielten Schuss auf einen der gegnerischen Anführer absetzt. Franzens Treffgenauigkeit hat einem Kameraden schon die Taschenuhr gekostet. Sie hatten gewettet, dass er sie auf hundert Meter träfe. Und er traf. Seine Frau berichtete von diesem Meisterschuss noch ihren Enkelkindern.
Die deutsche Schutztruppe ist überlegen, und von der politischen Wirkung der Proklamation des Oberbefehlshabers Lothar von Trotha, wonach die Hereros beinahe vollständig ausgerottet worden wären, weiß Franz nichts. Ihm erschließt sich auch nicht das Rücksichtslose und Menschenverachtende dieses Krieges in der deutschen Kolonie. Für ihn besteht die einheimische Bevölkerung, die sich niemandem unterordnet und wo jeder mitreden und tun darf, was er will, aus Primitiven. Und so ist es für ihn ein Krieg, wie er ihn aus der Geschichte kennt: Der Gegner hat sich ins Unrecht gesetzt. Was ihn dazu veranlasst hat, danach fragt Franz nicht. Sie haben die deutschen Kolonialherren angegriffen, Farmen, Eisenbahnlinien und Handelsstationen zerstört. Folglich müssen wieder Ordnung geschaffen, die Rechte der Siedler wieder hergestellt werden. Wofür die Zigtausend Toten tatsächlich „geopfert“ werden, darüber denkt er nicht weiter nach. Er muss ja auch nicht bis zum Ende dieses zermürbenden Krieges mit den Herero und Nama in den Tropen bleiben. Und so erfüllt es ihn mit Genugtuung, an dieser Strafaktion gegen die aufständischen Eingeborenen teilgenommen zu haben.
Als Franz geboren wurde, bestand das Deutsche Reich gerade zehn Jahre. In seiner Geburtsurkunde heißt es noch umständlich: V or dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute, der Persönlichkeit nach bekannt, der Wirt Gottfried Reimann, wohnhaft zu Rauschbach, evangelischer Religion, und zeigte an, dass von der Auguste Reimann, geb. Block, seiner Ehefrau, evangelischer Religion, wohnhaft bei ihm, zu Rauschbach in seiner Wohnung am fünften September des Jahres tausendachthundertachtzigundeins um acht Uhr ein Kind männlichen Geschlechts geboren sei, welches den Vornamen Franz erhalten habe. Ausgestellt zu Hohenfürst am 11. September 1881 .
1906 in die Heimat entlassen, lernt er in Preußisch-Holland Emma kennen. Die Tochter eines Schmiedes aus Hagenow ist Waise und lebt bei Onkel und Tante. Fünf Jahre jünger, mit gerade mal zwanzig Jahren, bewundert sie den feschen Obergefreiten. Ihre Hingabe geht jedoch nicht so weit, seinem Vorschlag zu folgen, nach Südwestafrika – sofern dort Ruhe eingekehrt sei – auszuwandern und eine Farm zu gründen. Franzens Schwärmerei für Afrika ist ihr nicht ganz geheuer. Bleibe im Lande und nähre dich redlich, hält sie ihm instinktsicher entgegen. Und – war es Bauchgefühl oder Leidenschaft? – sie heiraten am 12. März 1907, und nach acht Monaten wird im November der erste Sohn geboren. Im Abstand von zwei Jahren folgen zwei weitere Kinder, ein Sohn und eine Tochter. So hat Emma mit Fünfundzwanzig hinter sich, was zu späterer Zeit manche Dreißigjährige noch vor sich hat.
Und der verantwortungsbewusste Franz hat von nun an eine sehr ernsthafte, hautnahere Motivation, als er gleich im August 1914 gegen die Russen mit zu Felde zieht. Als wären die Siege schon errungen, bricht er zuversichtlich zur Verteidigung von Ostpreußen auf, hilft siegen bei Gumbinnen und Tannenberg, Grodno erobern, verfolgt in Dezemberskälte den Feind vom Njemen zur Beresina und kämpft, inzwischen Feldwebel, schließlich in bulgarischen Sümpfen – immerhin hat er sich ja als tropentauglich erwiesen.
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