Dann fiel ihr Opa Wilmers plötzlich ein. Bei dem musste sie unbedingt noch vorbei. Opa Wilmers war eigentlich ein ganz lieber Kerl, pflegeleicht und außerdem wirklich ein armes Schwein. Vor allem aber konnte man es sich nicht erlauben, den Tod eines Bewohners nicht bemerkt zu haben.
Und Opa Wilmers musste bald sterben. Deshalb hatten sie ihn vor zwei Wochen schon auf ein Einzelzimmer gelegt. Der alte Mann glaubte immer noch an seine Silikose, seine Steinstaublunge, von der er erzählen konnte, als handele es sich dabei um einen Orden, den man für 40 Jahre Arbeit im Pütt bekam. Dabei hatte er schon lange Lungenkrebs und saß überhaupt voller Metastasen. Natürlich hatte ihm das niemand gesagt. Und warum auch? Sollte er als Bergmann sterben. Bei fast Achtzigjährigen war es ohnehin egal, woran sie starben.
Sie ging zurück ins Schwesternzimmer und nahm Wilmers Krankenakte, nur um noch einmal zu erfahren, was sie ohnehin schon lange wusste, weil sie es in den vergangenen Tagen immer wieder nachgesehen hatte. In der Rubrik Konfession stand römisch-katholisch, was ja an und für sich noch kein Beinbruch war, aber sie war in diesem Punkt durch ihre frühere Arbeit im katholischen Krankenhaus in Horst einfach vorbelastet: Wenn man dort in solchen Fällen versäumt hatte, den Geistlichen zu rufen, hatte es jedes Mal einen höllischen Ärger gegeben. Im Zweifelsfall ließ man besser auch mal einen Türken mit der letzten Ölung vor Allah erscheinen als einen Katholiken so ganz ohne vor dem katholischen Gott.
Dann warf Schwester Elisabeth die Akte wieder zurück auf den Tisch. Es war schließlich nicht ihr Problem. Der Mann hatte selber noch nie den Wunsch geäußert, und auch seine Frau, die nur noch selten kommen konnte, weil sie selber schwer krank war, hatte noch nie etwas in dieser Richtung gesagt. Außerdem konnten die Geistlichen ja auch etwas aktiver werden! Den Pfarrer der katholischen Gemeinde hatte sie hier überhaupt nur dreimal gesehen. In ein Heim der Arbeiter-Wohlfahrt kam ein katholischer Geistlicher anscheinend nicht so gern. Und wenn, dann bewegte er sich hier wie ein Späher auf feindlichem Gebiet.
Sollen sie sich doch um die Leute kümmern, wenn sie noch leben, dachte Schwester Elisabeth in selbstgefälliger Zufriedenheit. Nicht wenn sie schon so gut wie tot sind.
Schwester Elisabeths Gewissensbisse waren in der Tat völlig gegenstandslos. Mit Gott hatte Opa Wilmers schon lange nichts mehr am Hut, und auch mit der Welt von einem Tag zum anderen weniger.
Schon seit fast zwei Stunden beschäftigte ihn die Frage, ob er das hinter seinem Bett befindliche Sauerstoffgerät abschalten sollte oder nicht. Er glaubte zwar, dass er auf das Gas verzichten konnte, das durch einen dünnen Plastikschlauch unter seine Nasenlöcher geblasen wurde; aber das leise Zischeln und Brodeln der Apparatur beruhigte. Vor allem lenkte es ab vom Zischen und Brodeln der eigenen Lunge, das sich unweigerlich zu einer neuen Explosion steigern musste, wenn er sich auch nur geringfügig bewegte. Und diese entsetzlichen Hustenanfälle waren das einzige, das ihn noch in Angst versetzen konnte. Mit dem Tod hatte er sich längst abgefunden; aber an das Sterben konnte man sich nicht gewöhnen.
Außerdem war sein Spucknapf wieder bis zum Rand voll. Vielleicht hatten sie es wirklich nur vergessen, das Ding zu leeren. Vielleicht auch nicht, und auch das konnte man keinem übelnehmen. Bis vor ein paar Wochen noch hatte er das selber machen können. Für einen fremden Menschen musste es einfach eine Zumutung sein.
Er hörte, wie die Balkontür im Aufenthaltsraum geschlossen wurde. Die roten Ziffern seines Radioweckers standen auf 21 Uhr 48. Schwester Elisabeth hatte also ihre letzte Zigarettenpause am heutigen Tag beendet. Sie würde gleich noch einmal in sein Zimmer kommen, wie sie es jeden Abend tat, und wie jedes Mal würde er sich schlafend stellen, damit sie endlich mit gutem Gewissen nach Hause zu ihrer Familie gehen konnte. Er hörte ihre Schritte auf dem Flur näher kommen; dann wurde die Tür leise geöffnet. Ein breiter Lichtstrahl fiel in das dunkle Zimmer, und er schloss die Augen. Er hörte, wie die Frau vorsichtig durch das Zimmer schlich und sich hier und da zu schaffen machte, spürte, dass sie eine Zeit lang regungslos neben seinem Bett stand und ihn ansah. Es war ihm einfach peinlich, für sie fast überdeutlich den Lebenden zu spielen, wo ihm doch das Totsein keine Angst mehr machen konnte. Zumindest glaubte er das, und dann entfernten sich ihre Schritte, das Licht verschwand, die Tür wurde behutsam ins Schloss gezogen.
Er verspürte plötzlich eine tiefe Enttäuschung. Gerade noch hatte er die Chance gehabt, ein paar Worte mit einem Menschen zu wechseln, jetzt war es zu spät, nun lagen mindestens acht unerträglich lange Stunden vor ihm. Es würde langweilig, fürchterlich langweilig werden, und das war überhaupt das Schlimmste: diese entsetzliche Langeweile, die man nicht einmal zugeben konnte, wenn man die anderen nicht enttäuschen wollte. Die gaben sich schließlich alle Mühe, um selbst das Sterben erträglich zu machen. Er hörte, wie Schwester Elisabeth die Station verließ und in das oberste Stockwerk ging, wo sich das Personal umkleidete. Gleich würde sie wieder zurückkommen, die Station über das Treppenhaus verlassen, um sich bei der Nachtwache abzumelden, die immer im untersten Stockwerk saß.
Es ist einfach Zeit, dachte Friedrich Wilmers. Du fällst den anderen nur noch zur Last, sie ekeln sich vor dir, und wenn sie es geschickt verbergen, ist es nur noch schlimmer. Er wollte sich nun einreden, dass es sein innigster Wunsch sei, endlich tot zu sein.
Das fiel ihm nicht schwer.
Zuerst kam der stechende Schmerz unter den Hacken wieder. Er versuchte, ihn einfach nicht wahrzunehmen, scheuerte dann aber doch mit den Füßen über das raue Bettlaken, obschon er wusste, dass er genau das nicht machen sollte. Er hatte sich an einigen Körperstellen schon wundgelegen, sie hatten es ihm gesagt, etwas dagegen getan, und zunächst hatte er das alles nicht so ernst genommen, sogar noch Witzchen darüber gemacht. Aber in den letzten Nächten war es dann unerträglich geworden, vor allem an den Füßen.
Sein Blick ging zum Fenster. Wie mochte es nun draußen aussehen? Nass natürlich und ungemütlich. Trotz der bodenlangen weißen Gardine konnte er sehen, dass sie das Fenster verschlossen hatten, und er wusste, dass er nun das Sauerstoffgerät auf keinen Fall ausschalten konnte. Alleine der Gedanke, in einem völlig abgeschlossenen Raum zu sein, ließ ihn plötzlich nach Luft schnappen. Er musste sich zusammenreißen.
Vor einer Woche hatte sie seine Frau zu ihm gebracht. Sie war selber schwer herzkrank, lebte aber noch in ihrer Wohnung, weil der Arzt sich geweigert hatte, sie pflegebedürftig zu schreiben. Wenn sie Glück hatte, kam sie ins Krankenhaus, bis sie endlich ein Pflegefall war. Aber so lange konnte er nicht mehr warten und wollte es auch gar nicht. Er wollte plötzlich lachen: Schließlich hatte er jetzt zum erstenmal in seinem Leben ein Einzelzimmer, und er würde es mit niemandem mehr teilen. Ein Einzelzimmer, das das Sozialamt bezahlte; denn wer konnte schon die dreieinhalbtausend Mark im Monat selber aufbringen? Das konnte auch niemand ernsthaft wollen. Für die, die hier wohnten, hatte das Geld seine Bedeutung weitgehend verloren.
Nachts schien das Haus von einem sonderbaren Leben erfüllt. Es waren Geräusche zu hören, die tagsüber von der sinnlosen Hektik des Betriebs übertönt wurden, und in den endlosen Nächten hatte er mittlerweile eine wahre Meisterschaft darin entwickelt, die verschiedenen Geräusche zu identifizieren: Das leichte Glucksen in der Heizung, wenn die Pumpen das heiße Wasser durch die Röhren drückten, das Öffnen und Schließen verschiedener Türen, das leise Summen im Schwesternzimmer, wenn jemand die Nachtwache rufen wollte.
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