MARIA ATTANASIO
Der kunstfertige Fälscher
Ausführliche Notizen über den kuriosen Fall des Paolo Ciulla aus Caltagirone
Aus dem sizilianischen Italienisch
von Michaela Wunderle
und Judith Krieg
Für Giovanni, den wachsamen und geliebten Wahrer meiner Schriften
»Wir wissen alle, daß Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können. Der Künstler muss wissen, auf welche Art er die anderen von der Wahrhaftigkeit seiner Lügen überzeugen kann.«
Picasso, 1923
Wie alles kam oder vom traurigen Ende der Lira.
PRÄAMBELEine Straße zwischen den Lavafeldern
ERSTER TEILDer Künstler schließt mit euch einen Pakt: findet sein Konterfei.
ZWEITER TEILRoman, das bedeutet nicht Lüge. Das Leben ist oft trügerischer als ein Roman.
DRITTER TEILVorsitzender: »Ich habe verstanden, jede Farbe …« Ciulla: »… jede Farbe hat ihren … Geschmack.«
EPILOGDie Mutter des Faschismus gebiert stets neue Kinder.
Anmerkungen
Kleines Glossar in alphabetischer Reihenfolge
Große und kleine Fälschungen und ein falscher und ein echter Prozess
WIE ALLES KAM
oder vom traurigen Ende der Lira
Im Jahr 2003 baten mich zwei Schriftstellerfreundinnen aus Kampanien, Antonella Cilento und Emilia Cirillo Bernabei, um einen kleinen Beitrag für eine Art literarisches Requiem auf das Ende der Lira, das als Sammelband mit dem Titel In fin di lira 1veröffentlicht werden sollte.
Da ich nicht wusste, was schreiben, sinnierte ich eine ganze Weile über eine passende Absage, als mit einem Mal Erinnerungen an allerlei aufgeschnappte Sätze aus meinen Kindertagen in mir zu rumoren begannen, darunter auch die vertraute Beschwörung des legendären Paolo Ciulla, Chiddu ri sordi farsi , »der mit dem Falschgeld«: zum einen Metapher für die wundersame Erlösung aus wirtschaftlichen Notlagen — und derer gab es in den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Krieg zahlreiche und schwerwiegende —, zuweilen aber auch der Maßstab für einen rundum perfekten Betrug, eine makellose Täuschung.
Ich sagte meinen Freundinnen zu und machte mich auf die Suche nach Informationen über das private und öffentliche Leben des Fälschers Paolo Ciulla, im Archiv und in der Stadtbibliothek »Emanuele Taranto Rosso« in Caltagirone, seinem Geburtsort, sowie in der Bibliothek »Ursino Recupero« in Catania, wo er viele Jahre lang gelebt hat.
Ich verfasste einen Prosatext mit dem Titel Il curioso caso di Paolo Ciulla (Der kuriose Fall des Paolo Ciulla), der sich einige Monate später — infolge meiner Teilnahme an der Tagung zum Thema »Berühmte Strafverfahren«, zu der Professor Pasquale Beneluce an die Universität Messina geladen hatte — zu einem ausführlichen journalistischen Bericht über den spektakulären Prozess aus dem Jahr 1923 auswuchs, der den Fälscher auf der Anklagebank gesehen hatte.
Doch Paolo Ciulla trieb mich weiter um: Was ich über ihn geschrieben hatte, wurde weder seinem Leben noch meiner Einbildungskraft gerecht.
Ich setzte meine Recherchen im Staatsarchiv in Catania fort. Ein wahrer Glückstreffer war die Hilfsbereitschaft des Personals, dank dessen es mir gelang, die noch nicht systematisch archivierte fünfundachtzigseitige Begründung des Urteils, das die fünfte Strafkammer des Gerichts von Catania am 12. November 1923 verkündet hatte, ausfindig zu machen und zu fotokopieren.
Von diesen Dokumenten ausgehend, habe ich nach Belegen gesucht und Paolo Ciullas Lebensphasen rekonstruiert, obgleich sich die Überprüfung manches Mal als unmöglich erwies; auch den Inhalt der biografischen Rekonstruktion Paolo Ciulla, il falsario (Tringale, 1984) des Journalisten Pietro Nicolosi aus Catania, die mir zum Vergleich und zuweilen als Quelle diente, konnte ich nicht in allen Fällen verifizieren. Nicolosi ist ebenfalls Autor einer umfangreichen Chronik Siziliens (1900–1950) , die eine Menge kurioser Meldungen aus den Lokalnachrichten, vorwiegend aus Catania, enthält. Eine davon, eine historische Notiz, reizte meine Phantasie besonders: Der »Gefreite Adolf Hitler« war als »Kriegsgefangener« in Sizilien, »interniert in Augusta und für den Bau eines großen Hangars für Luftschiffe eingeteilt«. Eifrig suchte ich in Geschichtsbüchern, in Monographien, im Internet nach Belegen dafür. Nichts. Es fand sich keinerlei Hinweis.
Und ohne objektive historische Belege konnte es weder imaginierte Begegnungen noch Berührungspunkte zwischen dem Ciulla meiner Vorstellungswelt und dem unglücklicherweise sehr realen Hitler geben.
Der Duktus der Erzählung wogt hin und her: von absoluter Faktentreue in der Präambel sowie im ersten Teil (die Figur des Cola ausgenommen) und im dritten Teil, über eine Mischung aus Realität und Phantasie im Epilog, bis hin zur vorwiegend fiktiven Rekonstruktion im zweiten Teil und bei den Figuren Masi und Juan.
Mit Sicherheit steht fest, dass Paolo Ciulla ein Zertifikat der Académie des Beaux Arts in Paris besaß, dass er als Kopist im Louvre arbeitete, dass er sich in Le Havre nach Südamerika einschiffte. Aber über sein Leben zwischen 1907 und 1910 ist weiter nichts Gesichertes bekannt.
Echte Dokumente also, und Berichte, häufig erfundener Art, die aber Ciullas Biographie immer als Möglichkeit einbeschrieben sind und sich auf plausible Weise mit historischen Daten und Fakten überschneiden.
Marguerite Yourcenar schreibt in Bezug auf Zenon, den Protagonisten des im 16. Jahrhundert spielenden L’Oeuvre au noir (dt. Die schwarze Flamme): Die Figuren historischer Romane sollten immer von Zeugnissen und Ereignissen gestützt sein, die den Fakten und Daten der Vergangenheit entstammen, also der kollektiven Geschichte, um der »fiktiven Figur diese besondere, durch Zeit und Ort bedingte Realität zu verleihen, ohne die ein ›historischer Roman‹ nur ein gelungener oder misslungener Kostümball ist« 2.
Und nicht nur der fiktiven Figur, sondern bisweilen auch den schweigenden Leerstellen einer echten Lebensgeschichte, die durch ihre Verwandlung in Erzählung, wie alle Kunst, unweigerlich verfälschend, also ein Truggebilde ist.
PRÄAMBEL
Eine schwarze Wüste trat an die Stelle der wasserreichen Talsenke am Stadtrand, als am 9. Juni 1669 vor den Toren Catanias ein Vulkankrater ausbrach und sich von der Nesima-Hochebene gigantische Lavaströme hinabwälzten, das Castello Ursino, Trutzburg aus der Zeit Friedrichs II., am Meer umkreisten und ihren Weg fortsetzten. Und so kam es, dass sich das Schloss am Ende zwei Kilometer von der Küste entfernt befand.
Wenige Jahrzehnte später schon war auf jener kahlen Anhöhe ein Maultierpfad entstanden, der bald befahrbar werden sollte, und 1918 — längst drängte die Stadt über ihre Mauern hinaus — zu einer richtigen Allee geworden war, die der Bürgermeister Giuseppe De Felice Giuffrida dem einige Jahre zuvor verstorbenen Dichter Mario Rapisardi widmete, dessen Schöpferkraft auch in eine flammende Kontroverse mit Giosuè Carducci geflossen war.
An beiden Seiten der Allee standen vereinzelte Häuser, und einige Sträßchen zweigten von ihr ab, die sich schon nach wenigen Metern inmitten der Lavafelder verloren.
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