Es sei denn, er würde sich wehren.
Aber dafür war Mehmet Yilmaz gar kein Typ.
Er war ein überaus liebenswerter Mensch, der nur einen Fehler hatte: er erzählte Geschichten, ohne sich vorher zu überlegen, ob andere diese Geschichten hören wollten oder nicht.
Er war überhaupt viel zu naiv.
Für die Zeitung hatte Börner am Morgen des 10.Mai so gut wie gar kein Interesse. Er hatte Ärger, und das nicht zu knapp.
Vor zwei Tagen war offensichtlich nicht nur der Schlauch seiner Waschmaschine geplatzt, sondern einigen seiner Nachbarn auch der Kragen. Sie hatten ihn eigentlich immer gemieden, aber nun taten sie es mit Bedacht. Außerdem hatten sie dem Vermieter offensichtlich nicht nur die Überschwemmung der Wohnung gemeldet, sondern auch deutlich zu verstehen gegeben, dass die Kündigung des Mieters Richard Börner auf das allergrößte Verständnis der übrigen Hausbewohner stoßen würde: der Kerl sei andauernd betrunken, außerdem schon lange arbeitslos und habe sehr häufig den seltsamsten Besuch. Sie wolle ja niemanden in die Pfanne hauen, hatte eine Frau den Vermieter sogar telefonisch wissen lassen, aber dass der Kerl homosexuell und deshalb vor sechs Jahren auch bei der Polizei bereits rausgeflogen sei, das wisse doch nun wirklich jeder.
Börner war über diese Dinge informiert. Am gestrigen Abend hatte er dem Vermieter den Schaden melden wollen, damit die Sache nur möglichst schnell vom Tisch war. Es war ein langes Telefonat geworden, und was er dabei alles erfahren hatte, das hatte ihn schlichtweg umgehauen. Bis gestern Abend war seine Wohnung für ihn immer eine Art letzte Zuflucht gewesen, wo er unbehelligt von anderen tun und lassen konnte, was er wollte. Er hatte sich anscheinend geirrt.
Eine ganze Weile hatte er geglaubt, sich die Vorwürfe und Unterstellungen gar nicht länger anhören zu müssen. Niemand hatte es nötig, sich so etwas sagen zu lassen. Dann dachte er schließlich an die Kosten, die er verursacht hatte und für die keine Haftpflicht aufkam, und dann hielt er es für ratsamer, sich zunächst einmal so etwas doch sagen zu lassen. Er hatte den Vermieter allerdings um ein klärendes Gespräch gebeten, zu dem dieser überraschenderweise auch sofort bereit gewesen war. Natürlich, gleich morgen um 11 Uhr sollte Börner bei ihm vorbeikommen.
Er hatte den Mann noch nie gesehen. Seit er vor rund 15 Jahren die Wohnung in der Leipziger Straße bezogen hatte, war alles Notwendige schriftlich oder telefonisch erledigt worden. Es musste 1974 gewesen sein, dass er nach Schalke gezogen war. Er hatte die Wohnung damals genommen, weil sie in unmittelbarer Nähe des Abendgymnasiums lag, auf dem er schließlich sein Abitur nachgeholt hatte. Börner lachte zynisch bei diesen Erinnerungen: Mein Gott, das waren noch Zeiten gewesen! Da hatte er noch hehre Ziele gehabt! Es war lange her, sehr lange.
Als er losging, schaute er noch einmal auf die Adresse. Es war und blieb die Hohenzollernstraße in Gelsenkirchen-Bulmke, eine Gegend, die er doch eigentlich sehr gut kannte. Den ganzen gestrigen Abend war er im Geiste diese Straße mehrfach auf und ab gegangen, um sich an eine Gegend zu erinnern, wo so etwas wie ein Vermieter wohnen konnte. Vermieter waren schließlich alle kapitalistische Blutsauger, die in ihren dicken Villen das Geld verprassten, das sie anderen für die erbärmlichsten Hütten aus der Tasche zogen.
Er wurde enttäuscht. Der Mann wohnte in einem alten Mietshaus.
Im übrigen sah er allerdings genau so aus, wie Börner es sich ausgemalt hatte: Ende 60, Anfang 70, graue, pingelig exakt gekämmte Haare mit schnurgeradem Scheitel und ausrasiertem Nacken, das ausdruckslose Kartoffelgesicht des deutschen Spießers, kurz der Typ Mann, den Börner nicht ausstehen konnte.
Börners schlimmste Befürchtungen schienen sich dann auch sofort zu bestätigen. Der Mann hielt sich nicht lange mit irgendwelchen höflichen Floskeln auf, bot ihm nicht einmal einen Sitzplatz an, sondern kam gleich zur Sache. Den durch das aus der Waschmaschine ausgetretene Wasser entstandenen Schaden müsse Börner natürlich tragen, die Haftpflicht nehme sich von so etwas gar nichts an. Außerdem habe er bei den anderen Mietern des Hauses einen äußerst schlechten Ruf, es seien die verschiedensten Klagen über ihn gekommen, und natürlich müsse man der ganzen Sache nachgehen; denn schließlich lege jeder Vermieter Wert auf ein ordentliches Haus.
Wer sich denn da beklagt habe, wollte Börner wissen. Und ordentliches Haus sei wohl ein Witz; das seien doch alles Proleten.
Auf diese Bemerkung ging der Mann gar nicht ein, sondern fuhr ein schwereres Geschütz auf. Vor allem sei nämlich die Miete für den letzten Monat noch nicht überwiesen worden, und so etwas sei nach geltendem Recht ein Kündigungsgrund. Zu einem solchen Schritt habe er im Augenblick die allergrößte Lust, da - wie jedermann wisse - der Wohnungsmarkt sich in den letzten Jahren doch entscheidend geändert habe: wegen der vielen Aus- und Übersiedler aus dem Osten sei der Wohnungsmarkt mittlerweile so eng geworden, dass man es als Vermieter gottseidank nicht mehr nötig habe, auf alles und jeden Rücksicht zu nehmen.
Börner sah den Mann irritiert an. Die Miete war von seinem Konto nicht abgebucht worden? Gerade wollte Börner sein Unverständnis darüber zum Ausdruck bringen, als ihm einfiel, dass der Mann nur recht haben konnte. Das Arbeitslosengeld kam nicht mehr, und natürlich hatte so einer wie er bei keiner Bank Kredit. Das Geld vom Verkauf seines Wagens hatte er auf sein Sparbuch getan. Gerade wollte er alles erklären, als der Mann plötzlich fragte: "Arbeitslos sind Sie doch wohl auch noch?"
Börner glaubte, vor Wut zu explodieren. Rasend schnell addierte er in seinem Kopf ein paar Zahlen und kam zu dem Schluss, dass er von seinem Sparbuch den Schaden regulieren und außerdem noch ein oder zwei Monate lang die Miete bezahlen konnte. Er musste sich so etwas also nicht bieten lassen. Aber noch bevor er dem Mann das hatte mitteilen können, sagte der plötzlich: "Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit, Herr Börner! Nehmen Sie doch Platz!"
Und dann hatte sich urplötzlich alles geändert.
Sie tranken Kaffee, und als Börner den angebotenen Cognac höflich ablehnte, trank der Mann ihn alleine und wurde immer gesprächiger, bis er schließlich minutenlange Monologe führte. Er war der ältere von zwei Brüdern, und natürlich war er immer benachteiligt worden. Der jüngere Bruder hatte studieren dürfen, war Ingenieur geworden und hatte heute ein Heidengeld; er selber hatte den Kramladen der Eltern übernehmen müssen, und das Ding war bereits in den 60er Jahren pleite gegangen, weil es gegen die damals entstehenden Supermärkte natürlich keine Chance gehabt hatte. Und was die Häuser anbelangte, da machten sich die Leute angeblich immer ganz falsche Vorstellungen: Häuser kosteten nur Geld und brachten ausschließlich Ärger.
Geduldig hatte Börner zugehört, hatte auch ansonsten alles getan, von dem er glaubte, dass der Mann es erwartete, und irgendwann wagte er dann sogar, auch von sich zu erzählen: Er sei damals bei der Polizei eben nicht rausgeflogen, sondern habe selber gekündigt, weil ein offensichtlicher Mord an einem Homosexuellen gar nicht verfolgt worden war. Anschließend habe er in einem Anwaltsbüro in Essen gearbeitet und nebenbei ein paar Semester Jura in Bochum studiert. Seine Vergangenheit als Kripobeamter habe ihn im vergangenen Jahr eingeholt und eine weitere Arbeit in dem Anwaltsbüro unmöglich gemacht. Und seit der Zeit sei er in der Tat arbeitslos.
"Ich wusste gar nicht, dass Sie verheiratet sind," sagte der Mann plötzlich und Börner sah ihn irritiert an.
"Wie kommen Sie denn darauf?“
"Sie tragen einen Ehering."
"Ist das verboten?"
"Nein, natürlich nicht." Ganz offensichtlich war der Mann völlig verunsichert. "Nein, natürlich nicht", wiederholte er noch einmal in fast entschuldigendem Ton.
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