„Kein Problem, Du hast sicherlich recht. Ein Besuch wäre sicherlich nicht so gut. Du musst Dir keine Sorgen um mich machen, den Unfall habe ich ja überlebt :) Aber auch noch eineinhalb Jahre später kämpfe ich mit den Folgen. Ich muss immer noch zur Reha. Bert hat mir immer toll geholfen und mich nie im Stich gelassen, das hat mich sehr gerührt, und ich werde ihm immer sehr dankbar dafür sein.“
Parker ist beruhigt. Die Mail scheint ganz vernünftig. Er antwortet: ‚Das klingt wirklich nach keiner leichten Zeit. Da wünsche ich erstmal gute Besserung.’ Ein Problem weniger, denkt er. Sein Puls wird ruhiger und kräftiger. Er geht zurück ins Schlafzimmer und legt sich hin. Die Decke erdrückt ihn nicht mehr und er kann sogar ein bisschen schlafen. Trotzdem wacht er am nächsten Morgen wie gerädert auf. Aber immerhin: Er ist aufgewacht.
Parker macht sich einen Cappuccino mit viel Milchschaum, geht wieder ins Bett, schaltet den Fernseher an, zappt sich durch die Programme, döst immer mal wieder ein. Erst am Mittag steht er auf und weil er so lange gelegen hat, ist sein Kreislauf im Keller. Er schleppt sich auf das Sofa im Wohnzimmer, schaut zur Terrasse. Ein herrlich sonniger Tag. Vögel zwitschern, Hunde bellen. Er hört die Nachbarn im Garten lachen. Sein Kopf fühlt sich an wie zwischen einen Schraubstock gespannt. Wenn er zur Terrassentür blickt, flackert sein Sichtfeld wie ein Diaprojektor, auf dessen Linse Staubfäden tanzen. Wieder diese Migräne mit Aura. Er will den Vorhang zuziehen, das Licht aussperren, aber als er aufsteht, überfällt ihn Schwindel. Er geht in die Hocke, verharrt drei oder vier Sekunden. Dann fängt er sich wieder. Er sperrt das Licht aus und sich ein. Die Außenwelt wird immer mehr zu seinem Feind.
Bis zum Nachmittag vegetiert er auf dem Sofa im Halbdunkel vor sich hin. Die Glotze läuft, aber er hat keine Ahnung, was er sich anschaut. Es ist ihm auch egal. Er fühlt sich wie im Delirium. Das Telefon klingelt. ‚Sören‘ steht im Display. Aber Parker geht nicht ran. Reden ist ihm zu anstrengend. Also surft er im Netz, um sich abzulenken. Pling! Julia hat wieder geschrieben, natürlich.
„Ja, ist gerade eine sehr schwierige Zeit. Danke, dass du Dir Sorgen um mich machst.“
Es soll nicht bei dieser Mail bleiben. Pling, Pling, Pling! Immer neue Nachrichten trudeln bei ihm ein. Sie schreibt von Krankheiten und Verletzungen, von Behandlungen und MRTs, von Rückfällen und ihrem Kampf zurück ins Leben. Es geht um Operationen und alternative Heilmethoden. Um Selbstheilung und Fehldiagnosen. Und darum, dass sie immer alles übertreibe. Ein Buch, das wäre es doch! Über ihre Lebens- und Leidensgeschichte. Und den Kampf zurück ins Leben. Damit andere davon lernen können. Die letzte Mail beendet sie mit den Worten: „Sag mal, Du bist doch Texter. Was hältst Du davon, mein Ghostwriter zu werden? Keine schlechte Idee, oder?“
Oh doch, denkt Parker. Eine sehr schlechte Idee sogar. Er empfindet ein bisschen Mitleid mit der armen Frau. Sie scheint wirklich viel durchgemacht zu haben. Aber er ist nun wirklich nicht der seelische Mülleimer von anderen, nicht in seiner Situation und schon gar nicht von ihm eigentlich Fremden. Er hat genug Ballast, den er gerade mit sich rumschleppen muss. Also versucht er seine Absage so höflich wie möglich zu formulieren. Er fühle sich geehrt von dem Angebot, aber er habe neben dem Job überhaupt keine Zeit, ein Buch zu schreiben. Und weil er ohnehin den ganzen Tag schreibe, sei sein Kopf abends leer. Deshalb überlege er auch kürzer zu treten. Das war die falsche Antwort. Julia macht sich jetzt Sorgen, warnt vor einem Burnout. Sie hat tausend gute Tipps, die sie in etlichen Mails verpackt. Sie schreibt und schreibt und schreibt. Pling, Pling, Pling! Parker ist zu müde, um sie alle zu lesen. Schon gar nicht antwortet er. Aber auch am nächsten Tag schickt Julia sechs Nachrichten. Wieder antwortet Parker nicht. Er ignoriert die Mails und hofft, die Flut, die ihn zu ertränken droht, verwandelt sich in Ebbe. Aber immer, wenn er sich bei Facebook einloggt, sieht er, dass Julia Schneider online ist. Der grüne Punkt neben ihrem Profil verrät es. Und kaum ist er online, bekommt er auch schon eine neue Nachricht von ihr.
Parker fühlt sich beobachtet. Von dem kleinen runden Foto in seinen Kontakten starrt sie ihn unentwegt an. Unangenehm. Parker verändert seine Sicherheitseinstellungen, so dass er für andere unsichtbar bleibt. Aber jetzt kann er auch nicht mehr sehen, welcher seiner Freunde, die über den ganzen Globus verteilt sind, sich gerade auf der Seite rumtreibt und ansprechbar ist. Facebook ist zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden, ein Tool, das ihn mit seinen Freunden und Bekannten weltweit verbindet. Und jetzt besetzt diese Julia Schneider seine Standleitung in die Außenwelt, greift in sein Leben und in seine Gewohnheiten ein. Parker ist genervt. Pling!
„ Ich überlege schon länger, ob ich ein Buch schreiben soll, und ich bitte Dich darum, es mit mir zusammen zu machen. Ich kann die Geschichte und die Gefühle gut aufschreiben, und Du kannst dann die lustigen Sprüche dazu schreiben und es korrigieren, damit es auch erfolgreich verkauft wird. Als Co-Autor steht Dein Name neben meinem und Du wirst natürlich auch am Verkauf beteiligt, ist ja klar. Mir fallen schon tausend Sachen ein, was ich über mein Leben schreiben will. Hast Du eine E-Mail-Adresse, an die ich meine Ideen schicken kann? Habe Dir meine Kontaktdaten schon weiter oben hingeschrieben. Brauchst keine Angst vor mir haben, ich flirte gerne. Ich will aber nie weiter als das. Verbietet mir einfach meine Moral.“
Okay, sie spielt nur, denkt Parker. Wahrscheinlich braucht sie einfach ein bisschen Aufmerksamkeit oder eine Aufgabe, um sich abzulenken von ihren Krankheiten und Unfällen. Also schreibt er: „Hahaha, nein, Angst habe ich sicher nicht vor Dir. Das Buch klingt wirklich nach einer interessanten Geschichte mit vielen Aspekten. Solltest Du machen.“
Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Pling!
„ Vielen lieben Dank, dass Du mir helfen willst. Ich fange schon mal an. Schön, dass wir schon so gute Freunde geworden sind, findet man ja nicht so oft im Leben.“
Pling!
„Ich brauche definitiv jetzt was zu tun und möchte loslegen. Wenn Du meinst, wir sollen erst darüber reden, dann muss es sehr bald sein. Wie gesagt, Bert fährt auf Dienstreise. Dann hätte ich das Auto zur freien Verfügung.“
Parker stöhnt auf. Er hat doch nur versucht, freundlich zu sein. Was genau versteht Julia denn nicht? Er antwortet genervt: „In der Agentur ist die Hölle los. Ich habe immer noch nicht den Berg abarbeiten können, der sich in den zwei Wochen aufgebaut hat. Und ich muss nach Mexiko.“
Das ist nicht einmal gelogen. Parker hofft, dass die Nachrichten von Julia nun endlich aufhören werden. Aber er täuscht sich. Wieder mal. Und das gewaltig. Meist im Halbstundentakt, mindestens aber mehrmals täglich, prasseln immer neue Mitteilungen bei ihm ein.
Pling!
„Okay, versteh ich. Dann fange ich einfach an und schicke es Dir. Ich brauche Deine Mailadresse!“
Pling!
„Hatte ich mir schon gedacht, dass Du viel zu tun hast, deswegen wollte ich ja auch zu Dir nach Hamburg kommen, damit ich Dich abends kurz stören könnte - und dich vielleicht auch zum Lachen bringen. Essen musst Du ja sicherlich auch zwischendurch, oder?“
Pling!
„Ich weiß, was mit Dir los ist. Mir geht es ja genauso.“
Pling!
„Ich wollte ja auch die Woche in Hamburg bleiben, um den Anfang zu schaffen.“
Pling!
„Ich komme schon klar, geht besser als erwartet.“
Pling!
„Ich merke, ich muss mich erst mal einschreiben, gar nicht so einfach.“
Pling!
„Meine Eltern leben beide nicht mehr.“
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