Fünf Tage schleppt er sich ins Büro, mit kalten Fingern und nassen Achseln. Er rubbelt auf der Autobahn an den Haaren, schnuppert am Schweiß, der nach Angst riecht, und als das rettende Wochenende endlich da ist, sitzt er ermattet auf dem Sofa, genervt von der Sonne, die ihn nach draußen locken will. Aber Parker bevorzugt es, einfach nur dazusitzen und nichts zu tun. Zu mehr fühlt er sich nicht in der Lage. Er surft im Netz, schaut sich die Fotos der Regatta auf der Webseite des Vereins an. Er sieht einen blonden Mann mit Dreitagebart und Seitenscheitel, rot im Gesicht wie ein Hummer im siedenden Kochtopf. Einen Mann, der lacht und labert, der Grimassen schneidet, Arm in Arm mit seinen Freuden. Er sieht einen glücklichen Mann. Aber nur er weiß, dass dieser Mann zwei Gesichter hat. Nur er weiß, wie es in ihm wirklich aussieht. Nur er kennt das Dunkel, das ihn umgibt. Pling!
Auf Facebook erreicht ihn eine Freundschaftsanfrage: von Julia Schneider. Parker bestätigt sie. Dann surft er weiter im Netz. Ziellos, planlos. Pling! Eine Nachricht: von Julia Schneider. Gelangweilt klickt er sie an. Er überfliegt die ersten Zeilen. Dann schüttelt er sich, sitzt jetzt kerzengerade auf dem Sofa. Was steht da? Er beginnt von vorne zu lesen:
„ Lieber Peter, tut mir so leid, hätte Dich gerne in die Arme genommen. Aber es wirkte in dem Moment falsch. Ich wollte Dich nicht in Verlegenheit bringen. Ich vermisse es jetzt schon, Dich jeden Tag zu sehen. Ich hoffe, Du bist gut zu Hause angekommen. Wir sind ja noch auf dem Schiff, machen ein paar Tage Urlaub. Ich würde Dich aber gerne treffen. Bert ist übernächste Woche auf Dienstreise. Ich könnte nach Hamburg kommen. Oder wohin immer Du willst. Ganz liebe Grüße, Julia.“
Parker knallt das Laptop zu. „Was ist das denn jetzt für eine Scheiße?“, fragt er sich. In die Arme nehmen? Vermissen? Spinnt die?
Schlagartig ist sein Kopf schwer. Die Nachricht hat ausgereicht, um seinen Stresspegel die Reizschwelle überschreiten zu lassen, die Migräne und Angstzustände bei ihm auslöst. Weil er dauergestresst ist, braucht es dazu nicht viel. Eine Autofahrt, eine Schlange an der Supermarktkasse, irgendetwas Ungewöhnliches, das ihn überfordert, das ihn kalt erwischt. Sofort fühlt er sich unwohl - fahrig und benommen. Selbst eine Mail mit merkwürdigem Inhalt hat anscheinend das Potenzial, ihn aus seiner Komfortzone zu katapultieren.
Früher hätte er über so eine Nachricht gelacht, sich vielleicht sogar ein bisschen geschmeichelt gefühlt, die Mail und die Verfasserin aber jedenfalls nicht ernst genommen. Weitermachen, business as usual, wie immer. Was kümmern ihn die anderen? Aber diesmal ist es anders. Parker schüttet eine halbe Flasche Wasser in sich hinein, konzentriert sich auf sein Atmen. Es kann nicht anders sein, versucht er sich zu beruhigen: die Alte hat doch tatsächlich eine Affäre, ist aber zu blöd, den richtigen Peter anzuschreiben. Logisch, so muss es sein.
Parker klappt das Laptop wieder auf, liest die Nachricht erneut. Im Chatfenster leuchtet ein grüner Punkt neben dem Namen ‚Julia Schneider‘. Sie ist also online. Und unter ihrer Nachricht an ihn steht der Status ‚ gelesen‘ . Sie weiß also, dass Parker ihren Text zur Kenntnis genommen hat. Wie versteinert sitzt er vor dem Bildschirm, weiß nicht, was er tun soll. Sie schreibt gerade eine neue Nachricht an ihn, auch das teilt Facebook ihm in Echtzeit mit. Wahrscheinlich hat sie ihren Fehler bemerkt. Mal schauen, wie sie ihn geradebiegen will, denkt er. Doch Parker liegt falsch.
„Die Gefühle, die Du bei mir geweckt hast, geben mir viel Energie. Vielen Dank dafür. Ich muss mich wohl wieder dem Leben stellen. Nach meinem Unfall war das lange nicht möglich.“
Jetzt erinnert sich Parker wieder. Irgendetwas hatte sie von einem Unfall gefaselt, an diesem Abend im Restaurant, auch davon, dass sie mal Sportlerin war. Rudern? Parker kramt in seinem Gedächtnis. Oder war es Schwimmen? Irgendetwas mit Wasser, da ist er sich sicher. Wahrscheinlich hatte er damals in dem Restaurant eine seiner Plattitüden losgelassen. Warme Worte, so wohlig wie das Knistern eines Kamins. Als Werbetexter weiß er, wie das geht. Leuten ein gutes Gefühl geben, um ihnen den größten Müll anzudrehen. Aber jetzt fehlen ihm die Worte. Was soll er antworten? Oder soll er gar nicht antworten? Es dauert zwei Stunden, bis er sich endlich durchringt. Zwei Stunden, in denen er nicht zur Ruhe kommt. Am liebsten würde er ihr schreiben, dass bei ihr wohl ein paar Schrauben locker seien. Er steigert sich immer mehr hinein, wird wütend und ungerecht, weil er keine gute Antwort findet. Wie kann die sich einbilden, dass sie bei einem Typen wie ihm eine Chance hätte? Julia Schneider ist locker über Fünfzig. Er gerade mal Mitte Vierzig. In seiner kleinen chauvinistischen Welt ein absolutes No-go.
Parkers Freundinnen waren immer deutlich jünger als er gewesen. Und je älter er wurde, um so größer wurde der Altersunterschied. Selena, seine letzte Lebensgefährtin, die noch vor gar nicht so langer Zeit aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen ist, war zwölf Jahre jünger als er. Er erinnert sich noch, wie er zu ihr sagte, kurz nachdem sie zusammengekommen waren, dass sie noch zwei gute Jahre vor sich hätten. An ihrem 30. Geburtstag müsse er sich leider trennen. Er habe schließlich noch nie eine Freundin gehabt, die älter als 30 war. Und so solle es auch bleiben. Er fand das lustig. Sie ging ins Schlafzimmer und weinte.
Aber seit er nicht mehr er selbst ist, es ihm schlecht geht, hat er sich verändert. Früher hatte Parker keinen Konflikt gescheut, Kritik perlte an ihm ab wie Salzwasser an seinem Ölzeug in einem Sturm. Respekt vor den Naturgewalten, ja den hatte er, aber keine Angst. Angst war etwas für Schwächlinge. Für Verlierertypen. Er war ein Gewinner. Was scherte ihn die Meinung der anderen, er hatte ja doch Recht. Er wusste, er konnte ein Arschloch sein. Und es machte ihm nichts aus. Aber jetzt, wo er nur noch ein Schatten seiner selbst war, wo er am eigenen Körper erfahren hatte, was es heißt, verletzbar und hilflos zu sein, da wählt er andere, sanftere Töne. „Hallo Julia, danke für die netten Worte. Ich hatte ja keine Ahnung, was da alles in Dir vorgeht. Ein Treffen halte ich allerdings für keine so gute Idee. Ich hoffe, dass ist für Dich okay. Gruß aus dem grauen Hamburg, Peter.“ Senden!
Parker ist zufrieden. Kurz, knapp, aber nicht beleidigend. Alles gesagt, alles erledigt. Kurz denkt er an Bert, er und Julia schienen eigentlich unzertrennlich. Ein glückliches Paar. Wie man sich täuschen kann. Dann denkt er an das nächste Aufeinandertreffen, wahrscheinlich beim Sommerfest. Wie unangenehm! Wie soll er sich gegenüber Bert verhalten? Wie gegenüber Julia? So tun, als wäre nichts gewesen? Das erscheint ihm am besten. Das Problem einfach aussitzen. In der Politik klappt das ja schließlich auch. Und es war ja auch nichts passiert. Schon gar nicht hat er sich etwas vorzuwerfen. Nicht wie beim letzten Sommerfest, als er, frisch getrennt, mit der Freundin von Freunden unter der Dusche im Vereinshaus rummachte, während nebenan die Party tobte. Aber diesmal? Keine Ahnung, wie diese Julia nur dazu kommt, so sonderbare Mails zu schreiben.
In der Nacht zu Sonntag liegt Parker wieder schlaflos im Bett. Er friert, er schwitzt. Die Decke drückt auf seinen Brustkorb als wiege sie Tonnen. Sein Körper ist hypersensibel. Er kann kaum atmen. Die Wade zwickt. Das Kopfkino strahlt die nächste Folge von ‚Parkers Paranoia‘ aus: Thrombose, Lungenembolie, Herzinfarkt, Schlaganfall. All das geht ihm durch den Kopf. Nicht zum ersten Mal.
Aber in diesem Moment ist er sich sicher, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Er überlegt, ob er sich auf die Liege auf der Terrasse schleppen soll, damit die Nachbarn ihn am nächsten Morgen finden, bevor seine Überreste zu stinken anfangen. Er möchte nicht Tage vor sich hin verwesen in seinem Schlafzimmer, Brutstätte sein für Fliegen und Maden. Er quält sich aus dem Bett, geht in die Küche, stürzt hastig ein Glas Wasser hinunter, schluckt zwei Aspirin, um das Blut zu verdünnen. Sein Herz pocht, als sei er gerade von einem Langstreckenlauf zurückgekommen. Ständig fühlt er seinen Puls, der schnell, aber flach schlägt. Unmöglich jetzt zu schlafen. Also geht er ins Wohnzimmer und schaltet den Computer an. Julia hat wieder geschrieben.
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