„Natashia, ich ...“ „Schsch ... Kleiner Kuckuck.“ Ihre Gesichter waren sich unendlich nah, ihre beiden Münder zuckten leise, als würde keine Antwort der Welt diese sinnliche Entgleisung je mit Worten beantworten können.
„Der erste Mensch hat die Welt gemacht, Kleiner Kuckuck. Er hat alle Religionen gemacht, die Philosophie, alle Kulturen und alle Moralvorstellungen. Der erste Mensch hat all dies geschaffen. Alles, was um uns herum besteht, ist eine Schöpfung des ersten Menschen.“ Natashia machte eine ausladene Armbewegung und zeigte auf das umliegende Meer. „Wenn du wissen willst, wer du in Wahrheit bist, musst du wissen was du liebst, und du musst lernen eine Alternative zum ersten Menschen zu schaffen. Du selbst musst die Alternative zum ersten Menschen sein. Das ist das Geheimnis. Sei verspielt, Kleiner Kuckuck, sei verspielt und liebe.“
Natashia erhob sich anmutig und schlüpfte über die Treppe hinunter ans erste Deck und ließ Sue verwirrt und alleine zurück.
Was war da soeben geschehen? Sue versuchte ihre Fassung wieder zu gewinnen. Das konnte doch nicht sein. Soeben hatte sie sich von einer Frau küssen lassen. Und dieser Kuss, so sanft und flüchtig er auch war, oh, es war wohl die sinnlichste Berührung, die sie je gespürt hatte. Träumte sie oder war das alles Realität? Gab es da überhaupt noch einen Unterschied? Was auch immer mit ihr gerade geschah, es verwirrte sie. Alles, was sie von sich wusste, war, dass sie Mutter eines kleinen Jungen war, dass sie ihn liebte, ja, alles für sein Wohlergehen tun würde, und dass Natashia sie völlig aus der Bahn geworfen hatte, dass sie sich magisch zu dieser Frau hingezogen fühlte, sie wollte, mit Haut und Haaren. Aber auch, wie unendlich weit entfernt diese Frau war, so unerreichbar und doch so nah. Sie hatte Sue vom ersten Anblick an verzaubert, aber das war auch schon alles was sie wusste.
Pedro hing über der Reling. „Ich verstehs nicht!“ Er keuchte und übergab sich ein ums andere Mal. „Mein Leben lang war ich Fischer gewesen.“ Sein müder Blick erreichte Sue, die ihm zu Hilfe kommen wollte und ihm eine Packung Taschentücher reichte. „Ich danke dir, Kleiner Kuckuck, aber das hier solltest du nicht sehen.“ Sue lächelte mitfühlend. „Ganz ehrlich, Pedro, das Geschaukel macht mich auch ganz schön fertig. Ich verstehe dein Unwohlsein. Also nichts für ungut. Du kannst hundertmal Fischer gewesen sein, der Wellengang ist wirklich ziemlich heftig und ich glaube, soweit ich Stean und Kasai miteinander reden gehört habe, dass wir an der Insel da vorne ankern werden.“ Sie zeigte mit dem Finger auf einen kleinen Punkt auf offener See. Pedro nickte wissend und beugte sich erneut nach vor, um sich zu erleichtern. „Sagte ich dir schon, dass ich mein Leben lang Fischer war? Fischer und Boxer!“ Sue grinste. „Ja Pedro, das sagtest du bereits, aber das mit dem Boxen ist mir neu.“ „Ich hatte das Glück einige Jahre in den Staaten zu verbringen, ich verdiente mein Geld dort als Boxer. Ich wurde zwar nie Schwergewichtsweltmeister, aber ich habe mich immer gut und respektvoll geschlagen, bis an die US-Spitze. So konnte ich Natashias Studium in Boston bezahlen.“ „Deine Tochter studierte? Oh, das wusste ich nicht.“ Aus Pedros Gesicht verflog die Anspannung, „Ja, der Ältestenrat wollte es so. Natashia sollte beide Welten kennenlernen, verstehst du? Daher studierte sie Politikwissenschaft und Psychologie.“ „Hm“, machte Sue und kam ins Grübeln. Beide Welten sollte sie kennenlernen, das wäre wohl die westliche, also ihre Welt und die, in der Natashia selbst groß geworden war, das Matriarchat. „Wie hat sie sich geschlagen, im Patriarchat?“ wollte Sue nun sanft lächelnd von Pedro wissen. „Na ja, die Fülle in ihr aufrecht zu erhalten gelang ihr nicht immer so gut. Deshalb schickten sie mich, um ihr beizustehen, als Halt und Unterstützung. Aber schlussendlich hat Shia diese Prüfung wunderbar gemeistert. Sie ist für unsere Lebensweise, mit all ihrem angeeigneten westlichen Wissen, eine unschätzbare Bereicherung. Auch, wenn wir mit vielem nichts anfangen können, das wir die westliche Schizophrenie nennen. Es herrscht in westlichen Lebensweisen eine tiefe Gespaltenheit.“ Pedro wurde nachdenklich und Sue hörte seinen Ausführungen aufmerksam zu. „Viele glauben, dass unsere matriarchale Lebensweise primitiv ist, aber wir erlebten diese jahrhundertelange Prägung, die sich in patriarchalen Strukturen herausgebildet hatte, nicht. Die Zivilisation, die Kulturen und die Religionen haben die Menschen zur Masse gemacht. Abgetrennt, gespalten und widersprüchlich. Diese Spaltung ist gegen die Natur des Menschen und eben weil sie das ist, kann tief im Innersten die Einheit überleben. Daraus erwächst der gespaltene, schizophrene Mensch, der seine Seele nicht mehr hört. Er hat sie verloren, tief in sich drin. Auf diese Weise lebt er weiter, der gespaltene Mensch, aber sein Leben ist zur Hölle geworden. Verstehst du?“ Pedros Worte wurden sehr ernst. „Du, Kleiner Kuckuck, du hast diesen Wahnsinn erlebt. Und mit deinem Mann, dem Vater deines Kindes, hast du direkt miterlebt, was seine gespaltene Persönlichkeit, seine Abgetrenntheit aus ihm gemacht, wohin sie ihn getrieben hat.“ Sue wurde nachdenklich. Ja, Pedro hatte Recht. Aber gleichzeitig fragte sie sich, woher Pedro so viel über Aaron wusste. „Ich werde später Stean danach fragen, sicher hat er Pedro über mich und meine Vergangenheit mit Aaron aufgeklärt“, überlegte sie etwas aufgebracht. Sie mochte es nicht so gerne, wenn Stean ohne zu fragen Geheimnisse ihrer Vergangenheit ausplauderte. Ihr Blick richtete sich auf den Horizont aus. Weit war die Sicht, die sie einnehmen konnte, und dunkelblau und klar war der Himmel, der sich wie eine Decke auf sie niederbreitete. Nur eine dicke Unwetterwolke ließ es sich nicht mehmen, einen gewichtigen Platz mitten im Blau in Anspruch zu nehmen.
„Es muss schwer für euch beide in den Staaten gewesen sein, Pedro. Gut, dass du deine Tochter begleitet hast. Alleine in dieser Wildnis da draußen kann man gerne vergessen, wer man in Wahrheit ist. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich weiß schon lange nicht mehr wer ich wirklich bin.“ In Sues Augen blitzten leise Tränen.
Pedro ließ die Reling los, schritt auf Sue zu und umfing sie mit seinen starken Armen. Die Wellen wurden zu mittelgroßen Brechern und der Sturm, der in Windeseile aufzog, veranlasste Kasai und Stean so schnell wie möglich einen geeigneten Ankerplatz in einer geschützten Bucht zu finden.
„Wir hatten uns, das genügte bereits, um nicht ebenso in diese schreckliche Spaltung zu geraten, Kleiner Kuckuck. Denn weißt du, die westliche Welt beherbergt Massen an Menschen, die nicht sagen können wer sie sind, sie haben kein Sein. Sie sind wie ein Marktplatz voller Stimmen. Wenn sie Ja sagen wollen, ist sogleich auch das Nein da. Dieses einfache Wort Ja, aus tiefstem Herzen gesprochen, wird zur Farce, es kann nicht gesagt werden. So ist es unmöglich glücklich zu sein. Eine ganz natürliche Folge einer gespaltenen Persönlichkeit, unglücklich zu sein. Daher muss man schauen, diese Schizophrenie zu überwinden, diese gespaltene Persönlichkeit aufzugeben, das abgetrennte Denken aufzugeben. Der Mensch muss wieder lernen in seiner Mitte und kristallisiert zu leben.“ Pedros Stimme verstummte, als er Sue aus seinen Armen wieder entließ. Dann schritt er ein wenig zurück und blickte sie tief an. „Wirst du uns in Mikronesien besuchen? Denn weißt du, die Alten erwarten dich bereits mit großer Freude.“ Sues Gedankengänge flitzten blitzartig zu Kasai und Stean zurück. Sie würde sich sehr bald entscheiden müssen, denn Stean hatte vor, Pedro und Natashia nach Mikronesien zurück zu begleiten. Obwohl es ursprünglich so ausgemacht gewesen war, das sie gemeinsam nach Mikronesien reisen, so war diese Tatsache nun viel mehr ein großes Fragezeichen für Sue geworden. Sie musste sich entscheiden, was sie wollte. Und ob sie sich vorstellen konnte mit Stean zu gehen. „Wann wollt ihr denn die Heimreise antreten?“ fragte Sue etwas schüchtern. Pedros Antwort kam prompt. „Sobald du dich entschieden hast!“ Sue hatte noch eine Frage, also drückte sie etwas herum. Sie wollte nicht wie dumm dastehen, wenn sie danach fragte, also nahm sie sich ein Herz und bat Pedro um Aufklärung. „Pedro“, begann Sue. Ihre Stimme zitterte. „Was hast du am Herzen? Kleiner Kuckuck.“ Zärtlich nahm er ihre Hand in die seine. „Dir machen die Alten Sorgen, nicht wahr? Woher wir so viel von dir wissen, warum Natashia dich so verwirrt? Ja, ich sehe es in deinen Augen, dass du viele Fragen hast.“ Das hatte gesessen. Sue nickte stumm. „Ja, Pedro, woher wisst ihr das alles? Hat euch Stean von alledem erzählt?“ Pedros Lächeln verhieß ihr eine tiefe Vertrautheit, ein Wissen, das scheinbar noch nicht ganz verloren gegangen war in der Welt. „Ich könnte dir die Antworten auf deine Fragen geben, Kleiner Kuckuck, aber dann wären es nur Worte, willst du wahrhaft verstehen, wirst du nicht umhin kommen, deine Antworten selbst über das reale Erleben zu finden. Aber, um dich ein wenig zu beruhigen, unsere Älteste weiß schon lange von dir, sie hat das Ahnenwissen, verstehst du? Lange bevor Stean und ich uns kennengelernt haben, wusste sie von dir, von deiner Geburt, deinem schweren Lebenskampf, den du immer wieder gewinnen konntest, aufgrund deiner Fähigkeiten, die dir noch zu unbewusst sind. Und was Natashia und dich angeht, nun ja.“ Er räusperte sich. „Es gibt ein Band zwischen euch, immerwährend, nie sterbend, es zieht euch magisch zueinander hin, aber es kann euch auch voneinander abstoßen. Ihr seit Magnete, die einander bedingen, um voneinander zu lernen. Mehr kann ich dazu im Moment nicht sagen. Zudem darf ich es auch nicht. Die Göttin in dir wird sich richtig entscheiden.“
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