Vielleicht sind wir Alle in dieser Beziehung gleichmäßig begabt und vielleicht behalten wir eine klare oder dunkle Vorstellung der vergangenen Dinge nur im Verhältniß der größern oder geringern Erregung, die sie uns verursacht haben. Gewisse innere Vorgänge machen uns oft gleichgültig gegen Ereignisse, welche die Welt um uns her erschüttern. Es geschieht auch wohl, daß wir uns dessen, was wir schlecht begriffen haben, nur undeutlich erinnern und vielleicht ist das Vergessene nur eine Folge des Nichtbegreifens und der Unachtsamkeit.
Das mag nun sein, wie es will, meine erste Erinnerung, die ich hier mittheilen werde, schreibt sich aus dem frühesten Lebensalter her. Als ich zwei Jahr alt war, ließ mich meine Wärterin aus ihren Armen auf eine Kaminecke fallen; ich erschrak und verwundete mich an der Stirne. Dieser Stoß, diese Erschütterung des Nervensystems erweckte meinen Geist zum Gefühl des Lebens. Ich sah ganz deutlich und sehe noch den röthlichen Marmor des Kamins, mein dahinfließendes Blut und das verwirrte Gesicht meiner Wärterin. Ich erinnere mich eben so deutlich an den Besuch des Arztes, an die Blutigel, die man mir hinter das Ohr setzte, an die Unruhe meiner Mutter und an das Weggehen der Wärterin, die wegen Trunksucht verabschiedet wurde. Wir verließen das Haus; ich weiß nicht, wo es lag und bin nie dahin zurückgekehrt, aber wenn es noch existirt, so glaube ich, daß ich mich darin noch zurechtfinden würde.
Es ist daher gar nicht zu verwundern, daß ich mich der Wohnung, die wir ein Jahr später in der rue Grange-Batelière bewohnten, vollkommen erinnere. Von dort her datiren sich meine klaren und fast ununterbrochenen Erinnerungen. Aber von dem Unfall am Kamin bis zum Alter von drei Jahren kann ich mir nur eine unzählige Menge von Stunden zurückrufen, die ich schlaflos in meiner Wiege zubrachte und mit der Betrachtung einer Vorhangsfalte oder einer Tapetenblume ausfüllte.
Ich erinnere mich auch, daß die Bewegungen und das Summen der Fliegen mich viel beschäftigten, und daß ich die Gegenstände oft doppelt sah — ein Umstand, den ich nicht zu erklären vermag, dessen sich aber, wie mir gesagt ist, viele Menschen aus ihrer ersten Jugend erinnern. Vor Allem nahm die Flamme der Kerzen in meinen Augen diese Gestalt an und ich wußte, daß es eine Illusion war, konnte mich dem Eindrucke derselben jedoch nicht entziehen. Es scheint mir sogar, als hätten diese Einbildungen zu den einförmigen Unterhaltungen meiner Gefangenschaft in der Wiege gehört und dies Leben in der Wiege zeigt sich mir als ein außerordentlich langes und von einer sanften Eintönigkeit erfüllt.
Meine Mutter arbeitete früh an meiner Entwickelung, und wenn mein Gehirn auch keinen Widerstand leistete, so war es doch auch in keiner Weise voraus und hätte sich vielleicht erst spät thätig bewiesen, wäre man ihm nicht zu Hülfe gekommen. Gehen konnte ich, als ich zehn Monate alt war; sprechen lernte ich ziemlich spät, aber als ich angefangen hatte, einige Worte zu sagen, lernte ich die andern sehr schnell und mit vier Jahren las ich, sowie meine Cousine Clotilde; wir Beide waren wechselsweise durch unsre Mütter unterrichtet. Man lehrte uns auch Gebete und ich erinnere mich, daß ich sie ohne Anstoß von einem Ende zum andern hersagte, aber nicht das Geringste davon verstand — ausgenommen die ersten Worte des letzten Gebetes, das wir hersagen mußten, wenn wir, wie das oft geschah, unsere Köpfe auf ein Kissen legten. Es begann: Mein Gott, ich gebe dir mein Herz! Ich weiß nicht, warum ich dies besser als alles Andere verstand, denn es ist viel Metaphysik in diesen wenigen Worten; aber gewiß ist, daß ich es verstand, und daß es die einzige Stelle in meinen Gebeten war, bei welcher ich an Gott dachte und an mich selbst. Das Vater unser, den Glauben und das Ave Maria konnte ich sehr gut auf französisch, mit Ausnahme der Bitte: gieb uns heute unser täglich Brod! — aber wenn ich diese Gebete wie ein Papagei lateinisch hergeplappert hätte, würden sie nicht unverständlicher für mich gewesen sein.
Man ließ uns auch La Fontaine's Fabeln lernen; aber als ich sie fast alle konnte, waren sie mir noch immer ein verschlossenes Buch. Ich glaube, ich war es so müde, sie herzusagen, daß ich darum mein Möglichstes that, um sie recht spät zu verstehen und erst im Alter von 15 oder 16 Jahren wurde mir ihre Schönheit klar.
Man hatte sonst die Gewohnheit, das Gedächtniß der Kinder mit einer Unmasse von Schätzen anzufüllen, die über ihrem Begriffsvermögen stehen. Die kleine Anstrengung, die man ihnen dadurch verursacht, tadle ich nicht; Rousseau, der dieselbe in seinem „Emile“ ganz verwirft, setzt das Gehirn seines Zöglings der Gefahr aus, in Unthätigkeit so zu verdummen, daß es die Dinge, die für sein späteres Alter aufbewahrt sind, nicht mehr zu lernen vermag. Es ist gut, die Kindheit so früh als möglich an eine mäßige, aber tägliche Uebung der Geistesgaben zu gewöhnen; man beeilt sich nur zu sehr, ihnen köstliche Dinge darzubieten.
Es giebt keine Literatur zum Gebrauch für kleine Kinder, alle die hübschen Gedichte, die man ihnen zu Ehren gemacht hat, sind geziert und mit Worten überladen, die nicht aus ihrem Wörterbuche stammen. Die ersten Verse, die ich gehört habe, sind folgende, die wahrscheinlich Jedermann bekannt sind und mir meine Mutter mit der frischesten und sanftesten Stimme vorsang:
„Wir wollen in die Scheune geh'n,
Um das weiße Huhn zu seh'n;
Es legt ein Ei von Silber fein,
Das soll für unser Kindchen sein.“
Der Reim ist nicht eben reich; aber darauf kam es mir nicht an und das weiße Huhn, das silberne Ei, das man mir jeden Abend versprach und nach dem ich Morgens schon nicht mehr verlangte, machte auf mich den lebhaftesten Eindruck. Das Versprechen kam immer wieder und mit demselben die naive Erwartung. Freund Leclair, erinnerst Du Dich daran? auch Dir hat man jahrelang dies wunderbare Ei versprochen; es erweckte nicht Deine Habsucht, aber es erschien Dir als ein poetisches, anmuthiges Geschenk des guten Huhnes. Und wenn man Dir das silberne Ei gegeben hätte, was hättest Du damit gemacht? — Deine schwachen Hände hätten es nicht zu halten vermocht und Dein unstäter, wechselnder Sinn wäre dieses dummen Spielzeugs bald müde geworden. Was liegt an einem Ei, was liegt an einem Spielzeuge, das nie zerbricht? Aber die Einbildungskraft macht Etwas aus Nichts und die Geschichte dieses silbernen Eis ist vielleicht die aller materiellen Güter, deren Besitz unsere Begierde reizt. Der Wunsch ist viel, der Besitz ist sehr wenig.
Am Vorabend des Weihnachtsfestes sang mir meine Mutter ein ähnliches Lied vor; da dies jährlich aber nur einmal geschah, kann ich mich nicht mehr darauf besinnen. Desto deutlicher erinnere ich mich meines festen Glaubens an den Vater Noël, der als ein kleiner Greis mit weißem Barte erschien, durch den Schornstein in's Kamin hinunterstieg und um die Mitternachtsstunde ein Geschenk in meinen kleinen Schuh legte, das ich dann beim Erwachen fand. Mitternacht! diese phantastische Stunde, welche die Kinder nicht kennen, und die man ihnen als das unerreichbare Ziel ihres Wachens zeigt! welche unglaublichen Anstrengungen habe ich gemacht, um nicht vor der Ankunft des guten Alten einzuschlafen! ich hatte zugleich das größte Verlangen und die größte Angst, ihn zu sehen; aber es gelang mir nie, mich bis dahin wach zu erhalten, und am folgenden Morgen war mein erster Blick für den Schuh am Rande des Kamins. Welche Bewegung verursachte mir die Umhüllung von weißem Papiere! denn der Vater Noël war von außerordentlicher Reinlichkeit und versäumte nie, seine Gabe sorgsam einzuwickeln. Ich lief barfuß hin, um mich meines Schatzes zu bemächtigen; es war niemals ein sehr kostbares Geschenk, denn wir waren nicht reich. Es war nur ein kleiner Kuchen, oder eine Orange, oder ganz einfach ein schöner rother Apfel. Aber das erschien mir so köstlich, daß ich es kaum zu essen wagte. Die Einbildungskraft spielte auch hierbei ihre Rolle — sie ist das ganze Leben des Kindes.
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