Oder nimm doch nur deine Bekannten in den Schwulenkneipen! Ich habe nicht die geringste Lust dazu, so zu werden wie diese Leute. Die jungen Kerle, die jeden Abend nur noch schön sind, weil sie den Arsch nie voll genug kriegen; die alten Säcke, die ihr verkorkstes Leben durch albernes Getue nicht wahrhaben wollen; und die besoffenen Tunten, für die das Leben anscheinend nie mehr sein wird als eine Prunksitzung des Kölner Karnevals.
Michel hatte ihn nach diesem zynischen Ausbruch fassungslos angesehen. Und dann hatte der Junge auf eine Weise reagiert, die ihn völlig überrascht hatte: Du hältst mich bestimmt für dumm?, hatte er gefragt. Für ganz dumm und oberflächlich.
Er hatte augenblicklich widersprechen, sich entschuldigen wollen; aber statt dessen hatte er nur in Michels Gesicht geschaut, das ihm plötzlich hilflos, geradezu flehend vorgekommen war: Sag bitte, dass es nicht so ist! Sag, dass du mich nicht für dumm und oberflächlich hältst! Und dann hatte er nicht widersprochen. Vielleicht aus Wut nicht. Wahrscheinlich aus einem anderen Grund.
Geblieben war nur dieses Bild, diese eine Sekunde, in der man einen Menschen bis auf den Grund seiner Seele durchschaut zu haben glaubte, weil man dem anderen wehgetan und ihm keine Chance mehr gelassen hatte, sich zu verstellen. Ein ganz tiefes Gefühl von Mitleid, das er selber niemals so bezeichnet hätte, weil er wusste, dass es in seinem Fall von jemandem geäußert worden wäre, der zu wirklichem Mitleid gar nicht fähig war; der es einfach brauchte, ein Gegenüber völlig klein zu machen, um von der eigenen Erbärmlichkeit abzulenken.
Erst Tage später hatte er sich bei Michel entschuldigt.
Ich will, dass wir zusammen sind, weil wir uns lieben, hatte Michel nur gesagt. Dein Mitleid ist jedenfalls das Letzte, was ich brauche.
Mit Lisa hatte er solche Situationen oft erlebt. Einmal hatte er Lisa sogar eine Ohrfeige verpasst, und noch heute konnte er aus seiner Erinnerung dieses Bild hervorkramen wie aus einem Fotoalbum: Lisas fassungsloses Gesicht, als sie neben Veras Kinderbett stand und mit der linken Hand ihre Wange hielt. Und noch heute konnten auch die grauenhaften Schuldgefühle bei Bedarf wiedererweckt werden und die Scham, wegen der alleine man sich dem anderen gegenüber verpflichtet fühlen musste. Nun kam ihm dieser seelische Mechanismus vor wie die inszenierten Bilder verhungernder Kinder mit ausgestreckter Hand und großen Kulleraugen, mit denen man etwa vor Weihnachten in den Kirchen Mitleid erwecken wollte bei den Spendensammlungen für die dritte Welt. Eine Art des Mitleids von Menschen, die in der Wirklichkeit gar kein Mitleid mehr empfinden konnten.
Als er langsam die über den Dünenkamm zum Strand führende Treppe emporstieg, dachte er wieder an Michel. Ich will nicht so werden wie du. Ich finde dich ekelhaft: auch dieses Gesicht Michels würde er nie vergessen.
Und plötzlich kam ihm sein Verhalten ganz unglaublich vor. Er hatte den Jungen auf die übelste Weise beleidigt, ihn gedemütigt, und doch war er davon ausgegangen, dass Michel nichts anderes zu tun wisse, als zu Hause sehnsüchtig auf ihn zu warten. Ohne Michel nach dem Streit auch nur ein einziges Mal gesprochen zu haben, war er gestern nach Arnhem gefahren. Nun ging es ihm schlecht genug, nun sollte der andere ihm gefälligst helfen. Er nahm sich vor, die Frau im Hotel bei seiner Rückkehr gleich wieder nach Michel zu fragen, sie für den Fall, dass sie noch nichts unternommen hatte, eindringlich zu bitten, ihm bei der Suche nach dem Jungen zu helfen. Und wenn er ihr dafür die ganze Wahrheit erzählen müsste, er würde Michel finden. Und sich entschuldigen.
Es war gerade Ebbe, und da außerdem der Wind vom Land blies, hatte sich das Wasser weit zurückgezogen. Die zum Küstenschutz aus schweren Steinen ins Meer hinausgebauten Buhnen lagen größtenteils trocken und kamen ihm vor wie die Kaimauern eines ausgestorbenen Hafens. Bis auf zwei Menschen, die er noch als kleine bewegliche Punkte in der Ferne wahrnehmen konnte, war der Strand menschenleer.
Er ging dicht am Wasser entlang, und schon nach kurzer Zeit hatte ihn die Monotonie der schwachen Brandung eingelullt, die schreckliche Unruhe vergessen lassen, ihm einen anderen Rhythmus aufgezwungen. Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass weit und breit kein Mensch zu sehen war, blieb er sogar stehen und häufte zunächst mit bloßen Händen, später mit einer angespülten Holzplanke den Sand zu einem ansehnlichen Berg auf, den er anschließend noch mit einem Graben umgab. Es musste bald die Flut einsetzen, und wie einem kleinen Kind machte es ihm plötzlich Spaß, zuzuschauen, wie lange seine Sandburg den Wellen widerstehen würde, sich seinen Phantasien hinzugeben angesichts dieses bescheidenen Schauspiels, an dessen Ausgang es letztlich ohnehin keinen Zweifel geben konnte. Erst als er in der Ferne Menschen auftauchen sah, ging er schnell weiter. Es war kurz vor vier, als er beschloss, den nächsten Strandaufgang zu benutzen, um anschließend durch die Dünen nach Callantsoog zurückzukehren.
Der Dünenstreifen war an dieser Stelle allerdings wesentlich breiter als in der Nähe des Ortes, zudem verliefen die Wege nicht parallel oder in rechtem Winkel zum Strand, sondern waren hier derart verschlungen angelegt, dass er nach kurzer Zeit bereits nicht einmal mehr wusste, ob er überhaupt in die richtige Richtung ging. Um sich zu orientieren, verließ er schließlich den Weg und lief durch tiefen nachgebenden Sand eine der Dünen hinauf.
Von oben waren weder das Meer noch sonst irgendein Anhaltspunkt zu sehen. Ringsum breitete sich scheinbar endlos die Dünenlandschaft aus, die ihm plötzlich wie eine geeignete Kulisse für die zahlreichen Karl-May-Filme vorkam, von denen er in den späten 60er Jahren nicht einen einzigen versäumt hatte. Erschöpft ließ er sich in den kalten und feuchten Sand fallen.
Durch laute und übermütig klingende Stimmen wurde er plötzlich aus seinen Gedanken gerissen. Auf dem Weg unterhalb seines Sitzplatzes sah er einen Pferdekarren mit vier jungen Leuten vorbeikommen. Der Karren wurde von einem stämmigen Ackergaul gezogen, der von zwei Mädchen auf dem vorderen Teil des Wagens angetrieben wurde. Auf dem hinteren Teil des Wagens saßen mit dem Rücken zur Fahrtrichtung ein Mädchen und ein junger Mann. Das Mädchen zog ein kleines weißes Pferd am Zügel hinter dem Karren her, ein nervös und zerbrechlich wirkendes Tier, das ab und zu versuchte, an dem Gefährt vorbeizulaufen, und dabei jedesmal das Mädchen fast von dem Wagen zog.
Augenblicklich hatte ihn dieses Mädchen an Vera erinnert.
Sie war auf keinen Fall älter als 16, eher noch 15, hatte lange hellbraune Haare und den gleichen zarten Körperbau wie Vera, die sie auch heute noch am liebsten bei ihrem Spitznamen riefen: Floh. Unser Floh. Sie trug eine Reithose, große, plumpe Gummistiefel und eine gelbe Regenjacke, und auch diese Kleidung schien ihm nun geradezu typisch zu sein für die Art und Weise, auf die auch Vera es verstand, sich nach Lisas Ansicht geradezu zu verunstalten. Vera war immer ein ausgesprochen hübsches Kind gewesen; aber auf ihr Äußeres hatte sie ebenso wie er selber nie den geringsten Wert gelegt. Erst in den letzten Wochen hatte er sich immer häufiger gefragt, ob diese offensichtliche Nachlässigkeit oder sogar Gleichgültigkeit bei ihr echt oder nicht doch schon längst ganz bewusste Strategie war. Mittel zum Zweck eben, und als er nun in das Gesicht des Mädchens sah, fragte er sich, ob Vera nicht noch viel zu jung für die Beziehung zu Jochen war, viel zu jung eigentlich für jede Beziehung, und dann kam ihm dieser Gedanke plötzlich peinlich vor, geradezu ungeheuerlich, wie das dumme Gerede eines Spießers, der sich völlig überflüssigerweise in die Angelegenheiten eines fremden Menschen einmischt. Trotz ihres eher zerbrechlichen Äußeren hatte Vera schließlich immer schon gewusst, was sie wollte, und wie zur Bestätigung nahm er nun wahr, dass auch das Mädchen auf dem Karren es trotz des jetzt fast hämischen Lachens der anderen immer wieder verstand, das ängstliche Pferd, das sie am Zügel hielt, zu beruhigen und zum Weitergehen zu bewegen.
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