Lisa sprach von seiner Schuld, weil sie ihn liebte und ihn nicht verlieren wollte; davon war er überzeugt. Ein Gefühl, zu dem er die Schwiegermutter gar nicht für fähig hielt: Wie willst du das denn überhaupt machen? Gerade jetzt, wo es um eure Bildungsakademie alles andere als gut aussieht?
Lisas Mutter hatte immer schon die Fähigkeit besessen, das Wort Bildungsakademie in Anführungszeichen auszusprechen. Eine Einrichtung zur beruflichen Weiterbildung war für sie ganz offensichtlich so etwas wie eine Besserungsanstalt für straffällig gewordene Jugendliche und arbeitsscheue Sozialhilfeempfänger. Und wenn sie mit Dritten über ihn sprach, dann war er auch nicht kleiner Angestellter einer Einrichtung zur beruflichen Weiterbildung, sondern einfach nur Akademiker. Mein Schwiegersohn ist ja auch Akademiker. Promovierter Akademiker. Weshalb hatte er sie eigentlich noch nie gefragt, über welche Qualifikation sie denn eigentlich verfügte außer der, sich einen über alle Maße langweiligen Juristen mit Pensionsberechtigung an Land gezogen zu haben?
Der Rest stimmte leider. Die Arbeitsverwaltung hatte die Mittel für Umschulungen in den letzten Monaten drastisch zusammengestrichen, die Orientierungskurse für Langzeitarbeitslose und Spätaussiedler waren allein im letzten Jahr um über die Hälfte zurückgegangen. Drei Abteilungen hatten sie schon zugemacht. Zuerst waren die Honorarkräfte gefeuert worden, aber es hatte auch schon einige festangestellte Kollegen erwischt. Ohne an Michel auch nur im Traum gedacht zu haben, hatte die Angst um die eigene berufliche Zukunft schon vor Monaten für schlaflose Nächte gesorgt.
Da Lisas Mutter als Beamtengattin über derart profane Dinge nicht die Spur einer Ahnung haben konnte, würde auch sie sehr schnell auf den vermeintlichen Kern des Problems kommen: Kommst du dir nicht selber schäbig vor? Warum hast du Lisa überhaupt geheiratet? Du hast das doch von Anfang an gewusst.
Was habe ich deiner Meinung nach gewusst?
Dass du schwul bist.
Er musste plötzlich lachen. Der Schwiegermutter würde das Wort schwul nicht über die Lippen kommen. Selbst unter verschärfter Folter nicht.
Dass du homosexuell bist.
Nein, nicht einmal dieses Wort würde sie gebrauchen können.
Na, dass du eben so bist.
Wie denn? Wie bin ich denn? Sag es doch mal! Du würdest mir wirklich sehr damit helfen.
Wieder musste er lachen. Er könnte noch so lange nachfragen, er würde von seiner Schwiegermutter niemals in Erfahrung bringen, wie er war. Und niemals würde es ihn in Wahrheit auch nur im geringsten interessieren.
Er sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor zwei. Langsam ging er zu seinem Wagen zurück. Es war noch zu früh, um zum Hotel zurückzugehen; er würde es ohnehin nicht wagen, die Frau zu fragen, ob sie über ihren Schwager bereits etwas in Erfahrung hatte bringen können. Und was er ansonsten tun sollte, darüber hatte er nicht die geringste Vorstellung. Er nahm sich schließlich vor, ans Meer zu fahren, und nach kurzer Zeit konnte ihn die Vorstellung sogar beruhigen, stundenlang am Strand spazieren zu gehen.
Es war um diese Uhrzeit nicht einfach, die Stadt zu verlassen. Noch immer strömten die Menschen mit ihren Autos in die schon völlig überfüllten engen Straßen, um an diesem kalten und diesigen Nachmittag die Einkäufe für die Woche zu erledigen. Schließlich hatte er völlig die Orientierung verloren, hielt kurz hinter der Ortsgrenze noch einmal an und nahm die auf dem Beifahrersitz liegende, völlig zusammengedrückte Landkarte zur Hand. Bevor er Michel kennen gelernt hatte, war Holland für ihn nie etwas anderes gewesen als ein Ort, an dem man mit der Familie den Sommerurlaub verbringen konnte; wo es ansonsten noch Pommes frites mit einer Mayonnaise gab, die auch den Kindern auf Anhieb viel leckerer vorgekommen war als die in Deutschland; wo Frau Antje in Tracht und Holzschuhen durch die Gegend lief, um im deutschen Werbefernsehen für Käse aus eben diesem Land zu werben. Diese endlosen und raumfressenden Industriegebiete ringsum die Stadt passten absolut nicht in sein Bild. Nachdem er eine geraume Zeit gereizt die Landkarte betrachtet hatte, fuhr er weiter.
Erst als er die an den Dünen entlanglaufende Straße erreicht hatte, diese nach wenigen Minuten eine weite Linkskurve beschrieb und sein Blick auf den noch rund einen Kilometer entfernten Ort Callantsoog fiel, stimmten sein Vorurteil und die Wirklichkeit wieder überein. Mehr noch: die vielleicht gerade bei diesem nasskalten Februarwetter besonders anheimelnde Atmosphäre des kleinen Badeortes hatte er nicht erwartet.
Hier ist es gezellig, dachte er, als er den Wagen auf dem von kleinen Geschäften umstellten Dorfplatz abstellte. Obschon es zu dieser Jahreszeit und bei diesem Wetter außer ihm offensichtlich kaum einen Menschen hierher verschlagen hatte, waren fast alle Läden rings um den Platz geöffnet.
Gezellig war eines der vielen Wörter, die Michel ihm beigebracht hatte; und hatte er versucht, ein Wort wie gezellig auszusprechen, so hatte Michel immer lachen müssen. Und dann war ihm plötzlich auch noch die Situation vor Augen, in der dieses Wort zum erstenmal aufgetaucht war: Sie saßen zusammen in einem Restaurant irgendwo in der Hoge Veluwe. Mitten in dem Heidegebiet in der Nähe von Arnhem waren sie von einem Unwetter überrascht worden, und vom ersten Augenblick an hatte ihn die Atmosphäre in dem Lokal beruhigt.
Nachdem Michel ihm beigebracht hatte, dass gemütlich gezellig hieß, hatte er das plötzlich seltsam gefunden.
Was ist daran seltsam?
Wenn ein Deutscher es irgendwo gemütlich findet, dann meint er damit seine eigene Stimmung in einer ganz bestimmten Umgebung; das holländische Wort setzt doch wohl voraus, dass man unter Menschen ist, die man in irgendeiner Weise nett findet.
Michel hatten derartige Spitzfindigkeiten ganz offensichtlich nicht interessiert, vielleicht hatte er sie auch wirklich nicht verstanden, jedenfalls hatte er schließlich nur gemeint: Aber gemütlich ist es auf deutsch doch auch nur mit anderen Menschen.
Na, ich weiß nicht. Zumindest habe ich in der letzten Zeit immer das Gefühl, dass es ungemütlich wird, sobald ich auftauche. Manchmal denke ich sogar, ich kann bis ans Ende der Welt laufen, und wenn ich dort ankomme, ist all der Schlamassel schon da, in dem ich stecke.
Michel hatte ihn angelacht. Ich kann mir vorstellen, dass du dich im Augenblick nicht sonderlich wohl fühlst in deiner Haut. Du bist bei dir selber nicht zu Hause. Aber das kriegen wir schon wieder hin.
Michels Worte waren ihm an jenem Tag seltsam nahegegangen, und er hatte wie ein verliebter Pennäler dessen Hand unter dem Tisch gedrückt.
Nur wenig später hatte er dann eine Vorstellung gegeben über das, was er mit seiner Ungemütlichkeit gemeint hatte. Er hatte Michel abgefertigt wie einen dummen Jungen. Es hat einfach keinen Sinn, wenn du jetzt über die verlorene Zeit trauerst, hatte Michel ihn nur trösten wollen; über den Umweg, den du gemacht hast, um endlich so zu werden, wie du immer schon warst oder sein wolltest.
Er hatte Michels Hand augenblicklich losgelassen. Es gab für mich keinen Umweg, und es gab auch keine verlorene Zeit. Ich habe Lisa ganz bewusst geheiratet, ich habe ganz bewusst drei Kinder haben wollen, und vielleicht gerade weil das alles oft auch mit vielen - sagen wir mal - Unannehmlichkeiten verbunden war, kenne ich überhaupt nicht dieses Gefühl, das man heutzutage als midlife-crisis bezeichnet. Und dann war er auch noch philosophisch ausschweifend geworden. Die meisten Leute ersticken eben heute irgendwann an der Menge ihres nicht-gelebten Lebens. Diese Karrieretypen, die immer nur geschuftet haben und plötzlich spüren, dass sie zum alten Eisen gehören. Oder die emanzipierten Schranzen, die ihr ganzes Leben lang schreien, dass ihr Bauch ihnen gehört, obschon niemand jemals das Gegenteil behauptet hat; und mit 45 stellen sie dann anscheinend ganz überrascht fest, dass es jetzt wohl doch ein Schoßhündchen sein muss, weil es für Kinder zu spät ist.
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