Es gab einen unter ihnen, der begriff, dass dieser Kampf ihre allerletzte Chance war. Kommandant Oren, gezeichnet von Ruß, Schweiß und Blut, trieb seine wenigen verliebenden Männer zusammen. »Genug geglotzt, ihr Feiglinge, raus mit euch aus der Festung!«
Sie wählten einen geheimen Seitenausgang in den Dünen, der sie hinter den Feinden an den Strand brachte. Die Festung war wahrhaft schlau angelegt. An der Seeseite durch eine hohe Palisade geschützt, waren ihr im Landesinnern eine Vielzahl von Wassergräben, undurchdringliche Schilfgürtel und Fallen vorgelagert. Oren hatte diese in all den Jahren nach Fürst Bajans Fortgang und Tod in geradezu gildaischer Akribie erhalten, auch wenn manch ein Saraner ihn dafür verspottet hatte. Nur Dank dieses Irrgartens war es ihnen gelungen, eine solche Überzahl an Feinden abzuwehren und zu töten. Dennoch war die verbliebene Gruppe auf dem Strand zahlreich und auch gefährlich genug, sie immer noch ernsthaft in Gefahr zu bringen. Jetzt, da ihre Flotte versenkt war, hatten die Ethenier nichts mehr zu verlieren.
Klammheimlich führte Oren seine Kämpfer aus der Festung. Weit hinten schlichen sie sich an, rannten lautlos am Wassersaum auf die Kämpfenden und ihre wartenden Verbündeten zu. Niemand bemerkte sie, alle waren wie gebannt, und das wäre wohl auch so geblieben, hätte Kjell sich nicht einmal beiseite werfen und im Sand abrollen müssen. Einen winzigen Moment fiel sein Blick auf das Areal hinter den Feinden, und er kniff die Augen zusammen, genug für den Ragai, seinen Blick auch dorthin zu lenken. Er stieß einen Warnschrei aus, genauso wie Kjell, der seine Leute aufscheuchte. Dann war der Moment vorbei und die beiden Anführer stürzten sich wieder aufeinander. Alles andere verschwand erneut, und sie merkten nicht, wie hinter ihnen ein wüstes Gemetzel entbrannte. Von zwei Seiten attackiert, kämpften die verbliebenen Ethenier mit dem Mut der Verzweiflung, und wieder waren es Hjordis’ Pfeile, die manch einem das Leben retteten. Langsam aber sicher wendete sich das Blatt, und schließlich warfen die letzten der Ethenier ihre Waffen fort.
Doch die Saraner kannten keine Gnade. Zu viele Tote, zu viel Zerstörung hatte es gegeben. Sie streckten ihre Gegner einfach nieder. Plötzlich war es wieder still, und dies ließ auch die beiden letzten Kämpfer keuchend innehalten.
»Gebt auf!«, rief Kjell. »Ihr seid besiegt!« Noch einmal schrie der Ragai auf und stürzte sich auf ihn, aber Kjell war auf der Hut, wehrte ihn gekonnt ab. »Gebt es auf! Ihr werdet mich nicht besiegen!«
Blitzschnell sah der Ragai sich um, sah auf die Saraner, die langsam näherkamen, dann auf Kjell, dessen Augen wie Dolche aus dem rußgeschwärzten Gesicht leuchteten. Auf einmal brach etwas in ihm, Kjell sah es deutlich. Es war wie eine Mauer, die fiel. Plötzlich trat der Ragai zurück, hob sein Schwert. Kjell wusste, was jetzt folgen würde, und er nickte ihm zu, eine Ehrbezeugung für einen würdigen Gegner. Der Ragai verneigte sich, und dann, so schnell, dass die anderen gar nicht begriffen, was geschah, drehte er sein Schwert herum und stürzte sich hinein. Er war sofort tot, das erkannte Kjell, als er ihn mit dem Fuß herumdrehte und die Schwertspitze aus ihm herauszog. Nur entfernt hörte er den Jubel der anderen. Er stand stumm, versuchte, zu Atem zu kommen, und sah auf die reglosen Augen herab. Was für eine Vergeudung des Lebens, dachte er und fühlte sich auf einmal hundemüde und steinalt. Er schloss erschöpft die Augen.
Bis er unvermittelt ins Leben zurückgerissen wurde. Plötzlich hielt ihn jemand fest. Rauch, Schweiß, Meer registrierten seine Sinne als erstes und darunter ein ganz eigener Duft, doch das war nichts gegen die Wärme, die plötzlich durch ihn flutete. Einen winzigen Moment gestattete er sich, diesen Jemand festzuhalten und zu ruhen. Dann holte er tief Luft und trat zurück. Überrascht blickte er in Hjordis’ grüne Augen. Sie schwammen vor Tränen.
»Was... he, weinst du?«, flüsterte er, weil er hinter sich die anderen herankommen hörte.
Sofort war sie wieder die unnahbare Kratzbürste. »Nein! Ich hab’ Sand in den Augen! Bist du verletzt?«
»Nein. Du?« Sie konnte nur den Kopf schütteln, dann waren die anderen heran und rissen ihn von den Füßen.
»Ich glaub’s einfach nicht!«, rief Oren und drückte ihn, als wolle er ihm die Schultern brechen.
»Wo kommt ihr so plötzlich her?«
»Und wie...?«
Es prasselte nur so auf sie ein, bis Oren sie alle zur Ruhe rief und Kjell den Arm um die Schultern legte, kein leichtes Unterfangen mehr, wie er merkte. »Ich bin sicher, ihr habt viel zu berichten. Dank euch haben wir gesiegt!«
»Jaah, und einen Haufen hübscher Mädels habt ihr mitgebracht!«, rief einer der Wächter übermütig dazwischen und küsste diejenige, die er im Arm hielt, völlig ungeniert auf den Mund, was sie sich kichernd gefallen ließ.
»Danke, Oren. Gehen wir zur großen Halle und reden dort«, schlug Kjell vor.
Da wurden die Gesichter aller schlagartig ernst. »Das wird nicht möglich sein, fürchte ich. Sie ist teilweise abgebrannt. Und... dein Großvater ist tot.«
Alle Geräusche um ihn herum verstummten. Einen Moment lang hörte Kjell nichts weiter als das Hämmern seines Herzens. ›Großvater ist tot... Roar ist tot... ich bin Clansführer!!‹, jagte es durch seinen Kopf. Alle Meeresungeheuer auf einmal hätten nicht schlimmer sein können. Von weit entfernt hörte er Orens Stimme:
»...deshalb gut, wenn dein Vater nach Hause kommen würde.« Schlagartig war die Umgebung wieder da. Kjells Blick traf Bjarnes, und er schüttelte unmerklich den Kopf. Noch nicht. Zum Glück hielt auch Phorsteinn ausnahmsweise einmal den Mund.
Alle warteten darauf, dass er etwas sagte. »Ich...«, er hustete und spuckte aus, um seine Empfindungen zu verbergen, »wie ist das passiert? Ich will ihn sehen... und die Halle auch.«
Die Männer redeten durcheinander, während sie die drei Freunde und die Frauen in die Festung brachten. Alles, was sich noch auf den Beinen halten konnte, strömte zusammen, um sie zu begrüßen, sich mit ihnen bekannt zu machen und ihnen zu danken. Das wäre ihnen früher nie eingefallen. ›Jeldriks verwöhnter Welpen... Theas Muttersöhnchen‹, diese Rufe hatte er noch gut in Erinnerung. Deshalb schritt Kjell mit undurchdringlicher Miene neben Oren her, nickte nur oder schüttelte Hände, mehr nicht, nicht so wie Bjarne und Phorsteinn, die offen auf die Leute zugingen und sich lautstark bekannt machten.
Stattdessen nahm er die Umgebung in Augenschein. Neben den Schäden am Bollwerk gab es überall in der Siedlung beschädigte oder zerstörte Gebäude. Manche brannten immer noch und die Menschen hatten sie aufgegeben, achteten nur noch darauf, dass das Feuer nicht übergriff.
Auch den Hafen und das Hurenviertel hatte es böse erwischt. Das Haus ihrer Familie stand dagegen noch, und auch Bryns Hof hatte nichts abbekommen, wie Phorsteinn erleichtert feststellte. Von der Vorderseite der großen Halle war dagegen nur ein verkohlter Trümmerhaufen übrig geblieben.
»Die Wohnräume sind noch mehr oder weniger intakt«, sagte Oren, »genauso wie die Ställe und die Vorratsscheune. Viele andere haben ihre Wintervorräte komplett verloren, und die Ernte war eh nicht üppig. Es sieht düster aus für diesen Winter.«
»Und Roar?« Kjell blieb am Fuß des Hügels stehen.
»Er wollte bis zuletzt das Feuer löschen, nachdem wir ihn nicht haben mitkämpfen lassen. Er war zu alt und nicht mehr bei bester Gesundheit, verstehst du? Er hat es auch geschafft, aber ganz zum Schluss stürzte ein Balken herab und hat ihn erschlagen. Er liegt hinten in seiner Kammer. Sylja ist bei ihm.« Oren legte ihm die Hand auf die Schulter.
Kjell biss die Zähne zusammen. »Lasst uns... lasst uns einen Moment allein. Wir kommen dann wieder runter. Und Phorsteinn...« Er winkte ihren Freund mit sich. Verwundert folgte dieser ihm den Hügel hinauf.
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