Kjell blieb stehen und sah auf die neugierige wartende Menge hinab. »Ich wäre dir dankbar, wenn du die Nachricht von Vaters Tod mir überlassen würdest«, sagte er leise.
»Ist gut«, nickte Phorsteinn, »das habe ich mir bereits gedacht. Soll ich hierbleiben? Oder etwas tun?«
»Geh ruhig zu den anderen und lenke sie ab.« Kjell schlug ihm dankend auf die Schulter, holte tief Luft und machte einen zögernden Schritt den Hügel hinauf.
»Komm schon!« Bjarne packte ihn und zerrte ihn mit sich. Kjell riss sich los. Keuchend kamen sie beide oben an und standen gleich darauf in den Trümmern. »Oh Mann, sieh dir das an!« Das Dach war eingesackt, bis hinten durch. Sogar der Beratungsraum hatte etwas abbekommen, genauso wie der Gang zur Küche, sie lagen jetzt unter freiem Himmel. Man konnte auch erkennen, dass einiges in Sicherheit gebracht worden war, die Wände waren leer, wo einst die prächtigen Waffen gehangen hatten. Die umliegenden Gebäude schienen tatsächlich noch intakt zu sein, die Scheune, die Gästehütte, die Küche und das Sklavenquartier. Dort gähnte ihnen das Tor als leere Öffnung entgegen. Es war still hier, geradezu unnatürlich still.
»Wo sind all die Sklaven hin?«, rätselte Kjell, was Bjarne zu einem Schnauben veranlasste.
»Na, wohin schon! Entweder sie sind tot oder man hat sie eingesperrt, weil sie zu Beginn des Angriffes den Aufstand geprobt haben. Hast du den anderen nicht zugehört?« Aber auch er stand vor der großen Halle und traute sich nicht so recht weiter.
»Komm, bringen wir es hinter uns.« Langsam umrundeten sie das Trümmerfeld und gingen wie alle Bewohner durch die Küche in die Wohnräume des Gebäudes. Hier sah es eigentlich aus wie immer, nur dass alles völlig verlassen war und über allem noch immer der Brandgeruch lag. Bjarne folgte Kjell zu den weiter hinten gelegenen Schlafräumen.
»Sylja?« Kjell stieß vorsichtig die Tür zur Schlafkammer seines Großvaters auf.
Irgendwie kam sie ihm kleiner vor als einstmals. Die in seiner Erinnerung immer sehr imposante Frau schien geschrumpft zu sein. Die Haare schlohweiß, das Gesicht viel faltiger und die gebeugte Haltung ließen sie ganz anders wirken. Sie saß auf ihrem Bett, Roars Pranke in ihrer. Die Brüder waren erstaunt. Er sah eigentlich aus wie immer, nur der mächtige Brustkorb wirkte merkwürdig flach, und daran errieten sie, wo der Balken ihn getroffen haben musste.
Mit tränenblinden Augen sah sie auf, erkannte sie nicht. »Ich bleibe hier, ich gehe nicht!« Offenbar dachte sie, dass die Ethenier eingefallen waren und Saran verloren.
»Großmutter, keine Angst. Niemand wird dich zwingen. Wir sind es, Kjell und Bjarne.«
Sie zuckte zusammen. Schüttelte den Kopf, kniff die Augen zu und wischte sich mit dem Handrücken darüber. Dann riss sie sie weit auf. »Aber...«
Kjell hockte sich vor sie und nahm ihre freie Hand. »Keine Angst. Niemand muss irgendwo hingehen. Wir haben gesiegt!«
Nur langsam drang die Neuigkeit zu ihr durch, und es dauerte eine Weile, bis sie die Trauer soweit ablegen konnte, um sich über die Ankunft ihrer lang ersehnten Enkelsöhne zu freuen. Aber schließlich raffte sie sich in einer ungeheuren Kraftanstrengung auf und hieß sie willkommen.
Doch Kjell wusste, er musste ihr gleich den nächsten Schlag verpassen und ihr vom Tod seines Vaters berichten. Da war es mit ihrer Fassung gänzlich geschehen. Auch Kjell und Bjarne mussten schlucken, als ihnen einmal mehr der ganze Ernst ihrer Lage bewusst wurde. Auf einmal war ihre Zukunft ungewiss.
»Schlimme Zeiten, schlimme Zeiten«, stöhnte Sylja. »Hätten sie nur auf Roar gehört!«
»Wer, sie?«
»Die Männer. Es kam die Nachricht, dass die Ethenier die Insel angreifen wollten. Deshalb sind sie fast alle fort. Roar wollte nicht, dass sie fahren, er vermutete, das sei eine Falle. ›Das ist von langer Hand geplant, anders kann es gar nicht sein, und die Verräter sitzen mitten unter uns!‹, sagte er. Aber die Männer sahen das anders. Kaum waren sie fort, gab es einen Aufstand der Sklaven, und während Oren und seine Männer sie bekämpften, kamen die Schiffe und griffen uns an.«
»Was ist mit den Sklaven geschehen?«, fragte Kjell.
»Als unsere Männer merkten, was vor sich ging, haben sie alle getötet, derer sie habhaft werden konnte. Aber wie viele in die Sümpfe entkommen sind, das wissen die Götter. Ich kann nur hoffen, dass der Sedat sich mit den Seinen gut versteckt hat. Ihr werdet sie jagen müssen, sonst greifen sie uns wieder an.«
»Eine Menschenjagd«, flüsterte Bjarne, und in seinen Augen leuchtete es eigentümlich auf.
»Verdammt!«, fluchte Kjell. »Was tun wir jetzt?«
»Was wir tun? Na, diese Frage stellt sich wohl kaum, Junge. Du wirst Clansführer, so einfach ist das!« Das klang schon eher nach der alten Sylja, dachte Kjell. »Sieh nach, was von unserem Besitz noch übrig ist, und sieh zu, dass sich niemand daran vergreift. Lass dich zum Clansoberhaupt ausrufen. Sichere die Festung, hole...«
»Schon gut, schon gut!« Er unterbrach ihren Redeschwall, indem er sie in eine Knochen brechende Umarmung zog. »Bist du wieder bei uns, ja?« Fast musste er lachen. Jedenfalls war er ungeheuer erleichtert.
»Es nützt ja nichts, hier zu sitzen und zu jammern und zu klagen, mein Junge. Geh und tu, was getan werden muss. Wenn du Fragen hast, komm zu mir.«
Kjell holte tief Luft und ließ sie los. »Wir brauchen den Sedat und seine Männer, aber dazu müssen die Sümpfe erst einmal sicher sein. Bjarne, weißt du, wo man ihn finden kann?«
»So ungefähr, ja. Regnar hat es mir einmal erklärt.«
»Na, dann schlage ich vor, dass du deinem Erbe alle Ehre machst und wieder zum Sumpfjäger wirst. Hole ihn her und sieh zu, ob du nicht den einen oder anderen Sklaven wieder einfangen kannst. Großmutter, wo sind deine Frauen?«
»Wenn ich das wüsste! Undankbares Pack!«, grollte Sylja. »Da schützt man sie all die Jahre vor den Männern, und dann lassen sie uns bei erstbester Gelegenheit im Stich.«
»Wir werden sie schon finden.« Kjell drückte beruhigend ihre Hand. »Kommst du allein zurecht? Sollen wir jemanden schicken?«
»Nein, mein Junge, lass nur.«
»Gut. Dann sehe ich jetzt nach dem Rechten.«
»Geh du nur. Aber Kjell... rede als erstes mit Oren. Er sollte nicht von Dritten erfahren, dass sein bester Freund tot ist.«
»Ist gut, Großmutter, ich rede gleich mit ihm.« Die Zähne zusammenbeißend, machte Kjell sich auf den nächsten schweren Weg.
Auch Oren traf die Nachricht vom Tod seines Freundes wie ein Hammerschlag. »Oh verdammt, Junge, verdammt!« Er musste sich abwenden, und Kjell gönnte ihm einige Augenblicke der ungestörten Trauer. Aber schließlich wandte Oren sich um. »Du weiß, was das bedeutet?«
Kjell seufzte. »Ich beginne gerade ein wenig davon zu ahnen. Du musst mir alles sagen, was du weißt.«
»Darauf kannst du zählen!« Oren umarmte ihm und schlug ihm auf die Schulter. »Was hast du jetzt vor?«
Kjell legte ihm seinen Plan dar und holte seinen Bruder. Oren sah die Angelegenheit nicht ganz so locker wie er. Er gab Bjarne einen Trupp seiner Wächter mit, die Sümpfe zu durchkämmen. Außerdem sandte er einen Boten aus, Merte, die Heilerin, aus den Bergen zu holen. Sie war nach Altheas Fortgang immer noch die einzige Heilerin des Volkes. Es gab so viele Verletzte, das konnten sie niemals ohne ihre Hilfe schaffen. Auch Phorsteinn schickte Kjell los, um ihre Pferde und Waffen zu holen, während er selbst in Saran blieb.
Als nächstes kümmerte er sich um den Besitz seiner Familie. Er wusste, ohne ein schützendes Oberhaupt würde er binnen kürzester Zeit ein Fraß für die Ratten werden. Deshalb zeigte er sich in jedem Winkel der Siedlung, sichtete, was noch übrig war, von Gebäuden, Schiffen, Vieh und allem anderen. Ein Lagerhaus war abgebrannt, aber es schien, als sei es beinahe leer gewesen, die Ware auf den Schiffen. An den anderen hatte sich niemand zu schaffen gemacht, wie er erleichtert erkannte. Noch waren die Leute mit sich selbst beschäftigt.
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