Die Hurmsche, wie wir sie zu ihrem Missfallen nannten, war eine unbestrittene Autorität. Eine kleine grauhaarige Frau mit blitzender Brille, selbstbewusst, sachlich, hellwach, freundlich, öfters aber auch mit aufblitzender Ironie im Blick, rational diesseitig eingestellt, Verquastheiten abhold, selber gescheit und mit großer Neigung zu gescheiten Leuten. So nannte sie z.B. Mehring mit Wärme einen blitzgescheiten Mann. „Man müsse über sich hinauswachsen wollen, damit man nicht unter sich sinke“, zitierte sie einen unserer Klassiker. Sie war hilfsbereit, listig und immer engagiert. Eine Lehrerpersönlichkeit, die den Geist ihrer Schüler in Gang setzen und Spuren hinterlassen wollte. Sie machte nie Dienst nach Vorschrift, erlaubte sich aber auch Schwächen, die sich ein Lehrer eigentlich verkneifen sollte, wie z.B. die unverhohlene, oft entschieden einseitige Sympathie für Personen, die sie interessierten.
Frau Hurm wollte mit angestrengt gutem Willen in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone ein besseres Deutschland schaffen. Es war wesentlicher Verdienst dieser Frau, dass in unserer Klasse Offenheit und Freimut in weltanschaulichen Fragen selbstverständlich und ungefährlich waren und nicht verbohrte politische Sturheit herrschte wie schon ein Jahr nach unserem Abgang. Frau Hurm war im Herzen Sozialdemokratin. Später wurde sie aus der erweiterten Oberschule verbannt. Aber genau da wäre eine Frau mit ihrer Persönlichkeit am richtigen Ort gewesen.
Ihr Deutschunterricht war beispielhaft für diese Offenheit. Geist der Goethezeit und Edel sei der Mensch von Korff waren Leitfäden für die Klassikerbehandlung. Aufträge zu Schülerreferaten basierten z.B. auf Gundolf, Lukacz, Mehring. Deren konträre und kontroverse Positionen waren Stoffgrundlage unserer Diskussionen. Manchmal schien es, als behandelten wir die Themen ohne ihr wesentliches Zutun, als machte sie es sich leicht. Tatsächlich war sie natürlich der spiritus rector . Sie trat stark hervor, wenn es nötig war, weil wir etwas nicht erfassten, was sie für unverzichtbar hielt. So waren Aussagen in der gemäßen Ausdrucksweise zu rezitieren. Sie war nie mit dem bloßen Hersagen von Sätzen zufrieden, sondern drang auf das Beachten der Sprachmelodie, die richtige Sprechtechnik, den sinngerechten Sprachgestus und immer auf die Hörerbezogenheit, bis in uns eine Ahnung aufdämmerte, dass der Text eine größere Dimension hatte als uns zugänglich war. Das galt übrigens auch für ihren Französischunterricht, z.B. bei der Behandlung der Fabeln Lafontaines. Dass ihr Anspruch manchmal über unser Vermögen hinauszielte, ist mir lebhaft bewusst, wenn ich an meine Hilflosigkeit bei einem Erörterungsaufsatz über eine zugespitzte Sentenz aus Schillers Wallenstein denke. Was ich dazu zusammenfaselte, ist mir heute noch peinlich. Ihr Deutschunterricht, mit dem sich ihr Persönlichkeitsbild für mich am engsten verbindet, wirkte auf mich enorm motivierend. Als ich in Finsterwalde antrat, war mein Geist in literarisch-künstlerischer Hinsicht wahrhaft eine tabula rasa . Bevor es mit 15½ Jahren zum Dienst fürs Vaterland ging, war mein literarischer Schulstoff mager gewesen Ich hatte Storms Pole Poppenspäler in ganzer und Raabes Schwarze Galeere zur Hälfte gelesen. Das war alles. Danach kam nur Triviales.
Noch bei Schulantritt hatte ich keine Zeile an ernstzunehmender Belletristik gelesen. Die drastische Wende innerhalb von zwei Jahren, die mich zum Germanistikstudium brachte, hat Frau Hurm bewirkt. Vom ersten Tag an gab es kein Schwimmen beim Studium. Für mich hat sie beispielhaft hochschulvorbereitend gewirkt und als Lehrer habe ich mich später in vielem auf sie stützen können. Ihrer List habe ich wesentlich mitzuverdanken, dass ich überhaupt an einer Hochschule angenommen wurde. Ich war jahrelang für den Erhalt von Deutschlands Größe benutzt worden, so dass ich mich aus allem Politischen und Gesellschaftlichen weitgehend herausgehalten habe. Da mir also ein Ausweis über Tüchtigkeit auf diesem Felde fehlte, solche Tüchtigkeit aber unverzichtbare Voraussetzung für das Studieren war, erschlich sie sich für mich ein Aktivistenzeugnis der FDJ , ein Dokument, das es garnicht gab. Das war ein kräftiger Rückenwind, mit dem sie mich aus der Schule hinaus und in eine neue Entwicklungsetappe pustete.
Ich habe ihr viel zu verdanken.
Schiefertafel, Tinte und Schläge
Gerhard Hein *1930 Bau-Ingenieur
1936 bis 1939
Am 15. April 1936 wurde ich in die Klasse 8b der Knabenvolksschule eingeschult. Ich bekam neue Schuhe, schmucke Kleidung und die obligatorische Zuckertüte. Wir waren damals 2 Eingangsklassen mit 38 bzw. 40 Schülern. Der Klassenlehrer von 8a war Herr Puhle, der von der Klasse 8b Herr Sander. In den Klassenräumen wurde mit den Schülern und den dazugehörigen Lehrern ein Klassenbild gemacht. Auf ihnen sind die schlichten Räume mit den üblichen Schulbänken zu erkennen. Die Wandtafel war auf der entgegengesetzten Seite. Für die Klassenfotografien hatten meine Eltern damals keine Mark übrig. Bei der Einschulung oder Versetzung in die nächsthöhere Klasse war es üblich, die Schulbücher von Schülern dieses Jahrgangs zu erwerben. So konnte ich bei der Einschulung im April 1936 die Fibel für das 1. Schuljahr von einem Vorgänger übernehmen. Teilweise kauften die Eltern natürlich auch neue Bücher für ihre Kinder. In den ersten beiden Schuljahren wurde mit Schieferstift auf eine Schiefertafel geschrieben. Eine Seite war liniert, die andere enthielt Karos. Für den Transport in der Schulmappe gab es eine Hülle, damit die Hausaufgaben nicht unleserlich werden konnten. Schreib- und Rechenhefte gab es erst ab dem 3. Schuljahr. Wir schrieben mit dem üblichen Federhalter mit auswechselbaren Stahlfedern. Das Eintauchen in ein Tintenfass musste geübt werden, um Kleckse zu vermeiden. In den Pausen konnte man beim Hausmeister Brink im Erdgeschoß Milch in Flaschen für 10 Pfennig oder Milchkakao für 8 Pfennig mit Strohhalm kaufen. Für mich war das trotz des geringen Preises höchsten einmal in der Woche möglich. In dieser Zeit brachte mich meine Mutter immer auf dem Fahrrad in die Schule. Meistens fuhr sie dann weiter zur Arbeit. Nachmittags musste ich in den Kindergarten der Firma neben der Knaben-Volksschule laufen. Abends ging es mit meiner Mutter wieder heim.
Ich hatte im 3. und 4. Schuljahr Lehrer Puhle als Klassenlehrer. Er war sehr auf Reinlichkeit bedacht. In Erinnerung sind mir immer noch die täglichen Überprüfungen meiner Fingernägel geblieben. Das Reinigen war bei unseren sanitären Verhältnissen in einer Wohnlaube ein Problem. Meine Eltern wurden zwar ermahnt, verwendeten aber kaum Zeit für die Reinigung meiner Nägel. Außerdem war mein Schulweg kaum geeignet, die Hände bis zur Schule immer sauber zu halten. Der Spieltrieb tat unterwegs sein übriges.
Es sollte eine Arbeit geschrieben werden. Beim Eintauchen der Federhalter in die Tintenfässer meldeten alle, dass keine Tinte mehr vorhanden sei, obwohl diese gerade erst einen Tag vorher aufgefüllt worden waren. Die Tintenfässer für jeweils 2 Schüler befanden sich, wie damals üblich, in der Mitte der Schulbank. Es waren also 20 Fässer leer. Wo konnte die Tinte geblieben sein? Klassenlehrer Puhle war außer sich. Jetzt wurde gefahndet. Zum Schluss stellte sich heraus, dass einer unserer Schulkameraden scheinbar riesigen Durst auf Tinte hatte. Er hatte ausnahmslos alle Fässer aus der Bank herausgenommen und geleert. Dafür gab es dann die damals übliche Strafe. Im Winter 1938 fuhren mein Schulfreund und ich bei Eis und Schnee etwa 2 Kilometer mit Schlittschuhen in die Schule. Es ging einfach schneller. Einmal waren wir zu faul, die Schlittschuhe vor dem Schulgebäude abzuschnallen und gingen einfach damit bis in unseren Klassenraum im 1. Obergeschoß. Prompt wurden wir von Seelands Mope erwischt. Diesmal war er gnädig, es gab keine Schläge mit dem Rohrstock. Dafür mussten wir 50 Mal schreiben Man darf nicht mit Schlittschuhen in der Schule zum Klassenzimmer laufen . Das hat uns einen ganzen Nachmittag und ein halbes Heft gekostet. Stinklangweilig. Ich glaube, wir hätten in diesem Fall lieber Schläge bezogen.
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