Das grausige Portrait müsste also auch vor etwa 180 Jahren entstanden sein. Ich vermute, es war ebenfalls für unsere Kirche bestimmt und stellt die Heilige Margareta dar, der wir am 16. November gedenken und der unsere Bauern in dem Sprichwort: Hat Margaret keinen Sonnenschein, kommt das Heu nicht trocken rein, einen Einfluss auf die Ernte zuschreiben. Sie ist die Schutzpatronin von Schottland und war die Frau von Malcolm III., dem Blutigen, der seinen Vater, Duncan I., der im Jahre 1040 von dem berühmt-berüchtigten Macbeth getötet worden war, grausam gerächt hat. Margareta beseitigte die heidnischen Bräuche der Kelten in Schottland, förderte die römisch-katholische Kirche, unterstützte die Armen und Kranken und gründete Schulen und die Benediktinerabtei Dunfermline. Sie starb am 16. November 1093 in Edinburgh und wurde 1251 von Papst Innozenz IV. heiliggesprochen.“
„Bravo, Herr Oberlehrer!“, applaudierte der Dorfschullehrer. „Aber können Euer Allwissend auch erklären, wieso unser unbekannter Altarbildmaler ausgerechnet den Kopf einer schottischen Heiligen malen sollte?“
„Es könnte sein, dass er Margaretas Haupt in der Jesuitenkirche von Douai gesehen hat.“
„Wie kommt denn Margaretas Kopf nach Douai?“, wunderte sich der Apotheker.
„Nun, das kann ich euch Wissbegierigen verraten“, verkündete der Pfarrer schmunzelnd, nahm aber erst einmal einen tüchtigen Schluck aus seinem Bierglas, um dann endlich zu referieren:
„Während der Reformationszeit wurden Margaretas Gebeine nach Madrid in den Escorial überführt. Ihr Haupt aber begleitete Maria Stuart nach Schottland. Nachdem Maria Stuart aber am 18. Februar 1587 auf Schloss Fotheringhay selbst enthauptet worden war, wurde Margaretas Kopf nach Douai in die spanischen Niederlande gebracht.“
„Ja, ja, unsere Heiligen sind weit gereist ‒ teilweise“, bemerkte der Bürgermeister zynisch. „Doch wer war der Maler des unheimlichen Portraits, und warum ist das Kunstwerk im Besitz der Baronin und nicht in unserer Kirche?“
„Vielleicht, weil der Maler ein Urahn der Baronin war“, vermutete der Pfarrer.
Bruce Maison und Edith betraten zusammen mit dem Kommissar, den sie vor dem Postillion angetroffen hatten, die Wirtsstube.
„Da bist du ja endlich!“, begrüßte Yvonne ihren Mann. „Du kannst sofort das neue Bierfass anzapfen, sonst sitzen unsere Gäste gleich auf dem Trockenen!“
Kommissar Simenon hatte sich zu den anderen an den großen Tisch gesetzt.
„Sind Sie weitergekommen, Herr Kommissar?“, wollte der Pfarrer wissen.
„Oh ja, wir kommen immer weiter. Manchmal dauert es etwas länger, aber letzten Endes fassen wir den Täter.“
„Ihr Wort in Gottes Ohr!“, sagte der Pfarrer.
„Und doch soll es das perfekte Verbrechen geben!“, warf der Wirt ein.
„Nicht vor Gott, mein Sohn!“, widersprach der Pfarrer. „Der Herr im Himmel sieht alles! ‒ Trinken wir darauf, dass Sie mit Gottes Hilfe den Fall schnell aufklären, Herr Kommissar. ‒ Vielleicht können wir sogar etwas dazu beitragen.“
Simenon war hellwach: „Ich bin ganz Ohr. Schießen sie los, Herr Pfarrer!“
„Das Schießen möchte ich lieber Ihnen überlassen“, wehrte der Pfarrer ab. „Vorhin, kurz nachdem Sie uns verlassen hatten, hat mir Robert erzählt, dass er gestern Abend eine Gestalt auf dem Hof der Baronin gesehen hat.“
„Warum haben Sie mir das denn nicht schon vorhin am Tatort gesagt?“, fragte der Kommissar Robert.
„Weil ich die Gestalt nur ganz kurz im grellen Schein eines Blitzes gesehen habe und sie kaum beschreiben kann. Ich kann nur sagen, dass die Gestalt klein war.“
„Aha, also der kleine Unbekannte“, spottete Kommissar Simenon.
„Das könnte der schwarze Pier gewesen sein, ein Landstreicher, der zur Zeit in der Schlossruine haust“, meinte der Pfarrer.
„Woher wissen Sie das, Herr Pfarrer?“
„Robert und ich haben ihn heute vormittag dort aufgesucht.“
„Was wollten Sie von ihm?“
„Der Pier hat mir ein Gefäß, das er sich ausgeliehen hatte, zurückgegeben.“
„Warum mussten Sie es sich holen? Warum hat er es Ihnen nicht zurück gebracht?“
„Weil er sehr scheu und schüchtern ist.“
„Was war das für ein Gefäß?“
„Ein Trinkgefäß. ‒ Aber das ist doch völlig unwichtig. Er hat es mir ja zurückgegeben.“
„Warum? ‒ Ist er abgereist?“
„Nein, das glaube ich nicht. Der bleibt immer ein bis zwei Wochen hier.“
„Warum gibt er denn jetzt schon das Trinkgefäss zurück?“
„Er braucht es eben nicht mehr.“
Dem Pfarrer waren die Fragen peinlich, denn er wollte nicht, dass das ganze Dorf von dem Diebstahl des Abendmahlskelches erfuhr.
Die Verlegenheit des Pfarrers machte den Kommissar stutzig. „Was wissen Sie über den schwarzen Pier?“
Der Pfarrer erzählte ihm, was er schon zuvor Robert mitgeteilt hatte.
„Wenn ich das früher erfahren hätte, hätte ich den schwarzen Pier schon heute Nachmittag aufgesucht. Ich muss sofort mit ihm sprechen“, Simenon erhob sich. „Bitte führen sie mich zu ihm, Herr Pfarrer!“
„Dafür ist es jetzt zu spät. In der Dunkelheit finden wir den Pier nicht, und wenn er Angst bekommt, verschwindet er einfach. Wir müssen bis Morgen warten. ‒ Aber wenn Sie ihn befragen wollen, müssen Sie sich schon etwas einfallen lassen!“
„Wieso, wie meinen Sie das?“, fragte Simenon verwundert.
„Pier ist taubstumm, kann weder lesen noch schreiben und versteht auch kaum die Gebärdensprache.“
„Na, hoffentlich kann er wenigstens gut zeichnen“, meinte der Kommissar prompt und wandte sich unvermittelt an den Wirt, der frisches Bier auf den Tisch stellte.
„Wo sind Sie denn heute gewesen, Herr Maison?“
„Ich, äh, ‒ ich war bis zum Mittagessen hier und danach habe ich einen Verdauungsspaziergang gemacht.“
Edith schwebte die Treppe herab. Sie hatte sich geschminkt und ein hautenges Kostüm angezogen.
Kommissar Simenon fragte auch sie, wie sie den Nachmittag verbracht habe.
„Ich war mit Herrn Maison in der Schlossruine.“
„Haben Sie dort den schwarzen Pier gesehen?“, fragte der Kommissar.
„Heißt so das Schlossgespenst, an das hier alle glauben, wie mir Bruce, äh, Herr Maison, erzählt hat?“
„Haben Sie ihn gesehen?“
„Nein, natürlich nicht. Da war überhaupt niemand. Glaubt die Polizei jetzt auch schon an Gespenster?“
„Wie sind Sie denn in den Park gekommen?“
„Durch das Tor. Es war unverschlossen.“
„Robert, haben wir das Parktor offen gelassen?“, fragte der Pfarrer.
„Ja, wahrscheinlich. Sie hatten doch für den Torschlüssel keine Hand frei, weil Sie den Kelch festhalten mussten.“
„Was für ein Kelch ‒ der Abendmahlskelch?“, fragte der Kommissar und sah den Pfarrer verblüfft an. „Sie haben den Abendmahlskelch an einen Vagabunden verliehen!?“
„Das erkläre ich Ihnen ein andermal“, erwiderte der Pfarrer und zog sich hinter seinen Bierkrug zurück.
„Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie im Schloss waren?“, wollte Simenon vom Wirt wissen.
„Sie haben mich nicht danach gefragt.“
„Was haben Sie dort gemacht?“
„Ich habe Frau de Brandt die Ruine und den Garten gezeigt.“
„Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?“
„Ja ‒ es war kein Gespenst zu sehen!“, antwortete Bruce lachend.
Der Kommissar trank sein Glas aus, zahlte und verabschiedete sich. Yvonne servierte das Abendessen, eine mit Petersilie garnierte große Wurst-Schinken-Käse-Platte, Kräuterbutter und Baguette. Robert hatte nach seinem langen Querfeldeinmarsch großen Appetit und auch Edith bediente sich ausgiebig.
„So, so, du lässt dir also von fremden Männern einsame Schlossruinen zeigen“, stellte Robert fest und wunderte sich selbst, dass ihn dies nur amüsierte.
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