Ich kann hier leicht über meine Unfähigkeit zu tiefen Gefühlen innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen reden und schreiben, weil ich die Ursachen verstehe. Aber richtig nachfühlen, die Liebe zu einem Sohn, wie es sein sollte, wie es normal ist, das kann ich nicht. Mir fehlt etwas, was ich nicht nachholen, nicht nachfühlen kann. Die Folge der erlebten Traumas in meiner frühesten Kindheit. Das Problem an vielen negativen Kindheitserfahrungen ist, dass sie prägend sind. Besonders die ersten sieben Jahre im Leben eines Kindes sind wichtig. Trotz späterer positiver Einflüsse lassen sich Fehlentwicklungen in dieser Zeit nicht mehr auslöschen. Viele Dinge sind dann unwiederbringlich zerstört. Dank meiner Frau sind jedoch ein paar Verhaltensanomalien des „Peter-Pan-Syndroms“ bei mir heute nicht mehr so ausgeprägt, da sie während unserer Ehe die „Mutterrolle“ übernahm und mein emotionales Defizit auszugleichen schien. Sie übernahm die überfürsorgliche, nachgiebige, stets auf Harmonie und Konfliktvertuschung bedachte, sich zur Märtyrerin stilisierende „Mutterrolle“. Dass sie sich so aufopferte, liegt vermutlich in ihrer eigenen schwierigen Kindheit begründet, in der sie auch nie die Liebe erhielt, die für die „normale Entwicklung“ eines Kindes notwendig gewesen wäre. Bei ihr hat sich diese negative Kindheitserfahrung aber anders ausgeprägt. Denn negative Kindheitserfahrungen müssen sich nicht zwangsläufig immer in dieselbe Richtung entwickeln. Das Ganze ist abhängig von einer Vielzahl von Ereignissen, Traumas und Erfahrungen, die man als Kind macht. Viele positive und negative Lebensumstände kreieren sozusagen ihr eigenes Süppchen, eine eigene Persönlichkeit. Man könnte diesen Vorgang tatsächlich mit einem Kochrezept einer Suppe vergleichen. Jede Zutat, die hinzukommt, wegfällt, anders dosiert wird, verändert das Ergebnis mit zum Teil schwerwiegenden Folgen. Dazu reicht bereits etwas zu viel Salz aus und die Suppe ist ungenießbar ... Bei meiner Frau hat ihre negative Kindheitserfahrung dazu geführt, dass Sie sich im späteren Leben anders verhalten hat als ich. Ein Umstand, der eine Partnerschaft mit mir zusätzlich begünstigen wird. Zwei problembehaftete Menschen, meine Frau und ich, haben sich sozusagen gesucht und gefunden! Aber dazu später mehr …
Mit meinem elften Lebensjahr begann die Schulzeit in der Hauptschule, die auch noch von Gewalt und Mobbing durch andere Schüler geprägt war. Vermutlich spüren andere instinktiv, wenn man schwach und verängstigt ist. Insbesondere ein mehrere Jahre älteres Mädchen, das mir in der Schule vor und/oder nach Unterrichtsbeginn auflauerte. Nur, um mich zu schlagen, anzuspucken, zu demütigen oder um mir zu drohen, mir einfach Angst zu machen. Dieses Mädchen verhielt sich wie ein Junge, kleidete sich wie ein Rocker und hatte ein entsprechend aggressives Auftreten. Soweit ich damals erfahren habe, saß ihr Vater wegen Bankraub hinter schwedischen Gardinen. Allerdings kann das auch dummes Gerede gewesen sein. Menschen bauschen Geschichten gerne auf, wie man an der Klatschpresse gut erkennen kann. Aber wenn der Bankraub tatsächlich stattgefunden hat, war sie selbst nur ein Opfer ihrer eigenen häuslichen Umstände. Ich kann mich noch sehr gut an diese tägliche Angst vor diesem Mädchen erinnern, kurz vor der Schule, wenn ich aus dem Bus ausstieg, nach dem Unterricht und bei Schulschluss auf dem Weg zur Bushaltestelle. Sie löste mit ihren ständigen Drohungen und den Demütigungen für viele Jahre, tägliche Angstzustände in mir aus. Die Schulferien waren dabei immer meine Erlösung! Und während der Schulzeit suchte ich nach Gründen, nicht zur Schule gehen zu müssen, um vor diesen bedrohlichen Situationen zu fliehen. Das konnte ich oft nur erreichen, wenn ich krank war. Daraus entwickelte sich der Versuch, mich krank zu machen, und ich schluckte allerlei Zeugs. Mal irgendwelche grünen Blätter, mal Beeren von Bäumen aus dem Wald. Und ich erkrankte in der Tat. Entweder folgte eine sofortige Reaktion oder ich kehrte des Nachts mein Innerstes nach außen. Manchmal wurde das mit „schulfrei“ belohnt. Dass ich von den Pflanzen und Waldfrüchten hätte sterben können, bedachte ich in meiner kindlichen Naivität nie. Aufgrund der immer wieder erneut ausgelösten Übelkeit ließ ich irgendwann von dieser Idee ab. Die Jahre der Angst vor Schlägen und den Demütigungen in dieser Schule werde ich nie vergessen können. Eine weitere Erfahrung, die nicht gerade aufbauend ist für das eigene Selbstbewusstsein.
Ungefähr zwei Jahre später folgte ein Umzug unserer Familie von NRW nach Niedersachsen und diese täglichen Bedrohungen durch andere Schüler hörten damit glücklicherweise von ganz allein auf. Denn durch den Wechsel der Bundesländer musste ich auch die Schule wechseln. Das war eine unglaubliche Erleichterung für mich, denn in der neuen Schule war Mobbing kein Thema mehr. Aber wie das im Leben oft ist, das eine Problem beendet und das Nächste ist bereits im Anmarsch.
Denn in den ersten Monaten nach unserem Umzug spürte ich plötzlich diese fremden homosexuellen Gefühle, als ich einen nackten Mann in einer bekannten Jugendzeitschrift sah – auf der Seite mit der sexuellen Aufklärung! Ich fühlte mich zu diesem Bild mehr hingezogen als zu dem Bild mit dem nackten Mädchen. Um nicht zu sagen, weibliche Reize hatten plötzlich keine Wirkung mehr auf mich. Für einen Jungen sind diese Gefühle sehr seltsam, wenn man zuvor noch dieselben Gefühle für das andere Geschlecht hatte. Denn in meiner alten Heimat hatte ich eine Freundin, in die ich verliebt war. Sozusagen meine erste große Liebe nach meiner Mutter. Ich kann mich noch an den ersten Kuss mit diesem Mädchen erinnern, der mich total elektrisierte, als hätte ich Strom in den Lippen. Sogar den Wunsch nach sexuellem Kontakt hatte ich bei meiner Freundin bereits sehr früh. Ein Wunsch, der unerfüllt blieb. Nachdem ich von diesem Mädchen enttäuscht worden war, weil sie mit einem anderen Jungen ging, war ich auf der Suche nach einer neuen Freundin. Eine Suche, die nicht von Erfolg gekrönt war.
Zum Zeitpunkt meiner gerade neu entdeckten Neigung, mit zwölfeinhalb Jahren, war ich jedoch noch sehr naiv, verträumt und verspielt und wenig nachdenklich, was die Dinge in der Welt betraf, deshalb beachtete ich sie vorerst nicht weiter. Ich war schon länger der verträumte, in sich gekehrte Typ – möglicherweise wegen der vielen vergangenen negativen Erlebnisse. Diese neuen sexuellen Gefühle und das Nachdenken darüber sollten mich aber bald einholen, als ich mich in der neuen Schule in einen Klassenkameraden verliebte. Die Liebe auf den ersten Blick traf zum ersten Mal in meinem Leben auf einen Mann. Ich schämte mich unglaublich dafür, konnte aber nichts sagen. Unterbewusst wurde diese Scham vor diesen Gefühlen ausgelöst, weil mir klar war, dass ich von etwas Schlechtem heimgesucht werde, dass ich schwul bin, dass es etwas Falsches, Krankes und Verbotenes ist. Warum diese homosexuellen Gefühle damals in meinem Kopf derart negativ verankert waren, weiß ich nicht genau. Es war einfach so! Ich glaube, es lag daran, weil meine Umgebung das Wort „schwul“ als Schimpfwort benutzte und damit das Negative bereits suggeriert wurde.
Seitdem ich in meinen Klassenkameraden verliebt war, wurde der mit der Liebe einhergehende Liebeskummer und das Gefühl krank und unnormal zu sein mit jedem Tag unerträglicher. Alles in mir sehnte sich jeden verdammten Tag nach ihm und suchte seine Nähe. Ständig musste ich diese fremdartigen Gefühle aushalten. Jede Minute, jede Stunde, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an ihn. Trotz meiner ständigen Gebete war der Liebeskummer ein Jahr später immer noch nicht vorbei. Ich konnte keine Minute mehr von diesem Mann abschalten, denn ich sah das Objekt der Begierde jeden Tag in der Schule. Völlig unverhofft entdeckte ich kurz darauf die Verbote in der Bibel. Ich las zwar bereits seit Jahren hin und wieder in diesem Buch, aber mit Hinweisen auf mein sexuelles Problem rechnete ich nicht. Die gelesenen Worte lösten unmittelbar ein konstant schlechtes Gewissen gegenüber Gott in mir aus. Meine Scham war von jetzt auf gleich extrem vergrößert. Die Bibel sagt, dass meine sexuelle Ausrichtung eine Sünde gegen Gott ist. Dass auf das Ausleben und Zulassen dieser sündhaften Gefühle die Todesstrafe steht. Das suggerierte mir, dass es etwas sehr Schlimmes sein musste, wenn man von Gott dafür mit dem Tode bestraft wird. Ich vermutete, das war der Grund, warum meine Gebete wegen dem unerträglichen Liebeskummer nicht erhört wurden. Entsprechend stark bauten sich seit diesem Tag meine Ablehnung gegen diese seltsamen Gefühle und sexuellen Bedürfnisse auf. Die Bibel war für mich bindend, da Gottes Wort. Hier ein Überblick über die Bibelverbote und Ermahnungen, die mir das Leben zur Hölle machten:
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