1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Mit meinem fünfzehnten Lebensjahr hörte Gott sei Dank, der Liebeskummer zu meinem Klassenkameraden endlich auf. Von Tag zu Tag nahm die Intensität der Gefühle ab. Ich war so was von erleichtert, wieder frei atmen zu können, das kann sich keiner vorstellen. In solchen Momenten spürt man erst, welchen Klotz man jahrelang am Bein hatte. Doch nur wenige Wochen später lernte ich Norbert, meine große Jugendliebe, kennen. Als ich ihn das erste Mal sah, schlug die Liebe wie ein Blitz ein, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Der Ort des Geschehens ist bis heute unvergessen. Erneut begann das Kopfkino mit dem Liebeskummer und den einhergehenden sexuellen Gedanken und Wünschen. Und die Verbote in der Bibel lösten erneute Schuldgefühle aus. Ich betete jeden Tag zu Gott, er soll die Liebe wieder aufhören lassen oder Norbert dazu bringen, mir zu sagen, dass er mich auch liebt. Denn ich hatte erstmals die Hoffnung, den Wunsch, der Liebe mit Gottes Segen nachgehen zu dürfen, dass Norbert auch so krank ist wie ich. Aber alles Bitten und Beten nutzte nichts. Ohne eine Antwort auf meine dringendsten Fragen blieb ich zurück.
Trotz dieser sündhaften Liebe ging ich dennoch eine Freundschaft mit ihm ein. Die „Liebe“ in mir wollte unbedingt in seiner Nähe sein. Ich wollte möglichst viel Zeit mit IHM verbringen, wenigstens seine Nähe spüren. Ich war letztendlich der Meinung, wenn ich nur in seiner Nähe bin und nicht aktiv werde, kann das keine Sünde sein. Durch die Freundschaft mit Norbert wurde meine Situation jedoch noch schwieriger als jemals zuvor. Es war jetzt kein Klassenkamerad mehr, mit dem ich nichts zu tun hatte, den ich ignorieren konnte, den ich nur in der Schule während des Unterrichts sah. Jetzt verbrachte ich fast täglich meine Freizeit mit einem Mann, in den ich unsterblich verliebt war. Wenn das Objekt der Begierde direkt neben einem sitzt, geht und steht, einen durch Zufall berührt, ist es kaum möglich, in eine Traumwelt zu flüchten. Diese zufälligen Berührungen fühlten sich jedes Mal an wie Stromschläge, als würde er und nicht ich unter Strom stehen. Das war alles unglaublich anstrengend! An unzähligen Tagen schmerzte mir das Herz. Herzrhythmusstörungen und Stiche bis in die Schulter. Jeden Tag ging ich durch die Hölle. Damals konnte ich mir nicht mal im Traum vorstellen, dass auch andere Männer homosexuell sind. Jedenfalls niemand, der in meiner Nähe war. Alle Jungs um mich herum redeten immer nur von Frauen. Und ich hielt mich mit meiner sexuellen Vorliebe immer mehr für einzigartig erkrankt.
Dieser erneute penetrant anhaltende Liebeskummer mit den einhergehenden Schuldgefühlen und dem ausgelösten emotionalen Stress schlug sich in den darauffolgenden Monaten in immer stärker auftretenden Darmbeschwerden und Magenschmerzen bei mir nieder. Sogenannte somatoforme Störungen oder auf Deutsch gesagt: "Seelischer Schmerz, der sich in körperlichen Reaktionen äußert, die keine körperliche Ursache hat." Diese somatoformen Störungen existierten aber schon lange vor der Entdeckung meine Homosexualität, die auch in meinen negativen Kindheitserlebnissen geschuldet sind. Obwohl ich mit den Jahren immer häufiger Darmbeschwerden hatte, die mich manchmal durch die heftig auftretenden schmerzen und Anfälle zu Boden drückten, gab es bei meinen Eltern keinen Grund zur Sorge. Warum sollten Sie mit ihrem Kind zum Arzt fahren? Es simuliert sicher nur! Statt mich zum Arzt zu bringen, wurde sich lustig gemacht. Bereits lange vor dem auftreten der Magen und Darmbeschwerden, begann bei mir ständiges Augenzucken und Nasendrehen, ebenfalls eine nervöse Störung, ausgelöst durch emotionalen Stress. Ein Umstand, der bei meiner Familie ebenfalls nur für Belustigung sorgte. Das Nasendrehen blieb zwar nur wenige Jahre, aber das Augenzucken war neben den Magen und Darmbeschwerden ein Symptom, welches sich bis zu meiner Heirat und noch viele Jahre darüber hinaus zeigte. Die Darmbeschwerden sind sogar bis heute geblieben, äußern sich jedoch nur noch alle paar Jahre, wenn es gut läuft. Die Abstände zwischen zwei Phasen wurden mit der Zeit immer länger.
Der Alkoholismus meines Vaters, der Mangel an elterlicher Fürsorge, die vielen wechselnden Partner meiner Mutter, Gewalt, Schläge, Streitigkeiten und Trennung der Eltern, Suizid des Vaters, veränderte die Familienstruktur in erheblicher Weise und sorgten bei mir neben dem Mobbing in der Schule, der Einsamkeit durch fehlende Freunde und der als krankhaft geglaubten sexuellen Ausrichtung, sowie dem nicht enden wollenden Liebeskummer zu anderen Männern für einen Summierungseffekt vieler negativer Faktoren.
Die Schuldgefühle aufgrund meiner verwirrten sexuellen Ausrichtung und der ständige Liebeskummer waren seit den stärker auftretenden Darmbeschwerden eine zusätzliche enorme Belastung. Das raubte mir die ganze Kraft. Ich war in den kommenden Jahren nur noch erfüllt von tiefer Trauer und schlechtem Gewissen wegen dieser verbotenen fremdartigen Gefühle und Begierden. Von morgens bis abends lief das Gedankenkarussell. Es gab selten und eigentlich nie Tage, an denen ich abschalten konnte. „Es“ war immer allgegenwärtig! Letztendlich dauerte es bei Norbert zwei Jahre, bis auch die Liebe wenigstens etwas an Kraft verlor. Ganz vorbei war sie jedoch nie. Beeinflusst wurde das Abnehmen der Gefühle, weil sich unsere Wege durch Beruf und Umzug trennten. Meine Eltern sind mit mir wieder zurück nach NRW gezogen und Norbert ist seiner Lehrstelle nachgereist – in die entgegengesetzte Richtung. Die Entfernung verhinderte, dass wir uns sehen oder treffen konnten. Nur auf der Berufsschule sah ich ihn noch manchmal, das fachte meine unerfüllte Sehnsucht jedoch immer wieder erneut an und sorgte für viele Wochen erneutem Kummer!
Ein paar Monate, vielleicht ein Jahr später, genau kann ich es nicht mehr sagen, verliebte ich mich erneut. Diesmal in einen Arbeitskollegen auf meiner Ausbildungsstelle. Selbst auf der Arbeit hatte ich jetzt keine Ruhe mehr vor dem Liebeskummer. Bis relativ schnell, Gott sei Dank, die Liebe dem Ende entgegenging, weil das Objekt der Begierde kündigte und mir folglich nicht mehr begegnete. Kurz darauf verliebte ich mich abermalig, diesmal in einen Mann aus dem Karateverein. Monate danach trat ich aus dem Verein aus, um vor diesen Gefühlen zu flüchten. Ich hatte die Nase gestrichen voll von diesem ständigen Gefühlschaos, dem Liebeskummer und vor allem davon, ständig dem Objekt der Begierde zu begegnen. Ich igelte mich zu Hause ein und es war wenig später zum Glück überstanden. Ich habe keine Ahnung wie das emotional geht, sich trotz der Liebe zu Norbert in weitere Männer zu verlieben. Das waren anscheinend nur Strohfeuer, eine Schwärmerei oder rein sexueller Natur. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich war anscheinend völlig durch den Wind. Die Einsamkeit wurde mein häufigster Begleiter, weil mich diese fremden Gefühle, die Bibelverbote, dazu drängten, zu flüchten. Weil es für mich scheinbar auch nicht möglich war, in einem Sportverein meinem Interesse am Kampfsport nachzugehen, übte ich fortan allein zu Hause. Mein Vater war davon nicht begeistert, denn ich plante, das Training mit einem Schwert zu erweitern. Aber er verbot mir den Besitz jeglicher Waffen. Ein Schwert, um Gottes willen, das durfte ich mir nicht kaufen. Wer weiß, was ich damit anstelle? Und das, obwohl er früher selbst mit Pistole und Gewehr hantierte. Heimlich versteckte ich die bereits vorhandenen Waffen wie Wurfsterne, Wurfmesser, Pfeil und Bogen in meinem Zimmer. Pfeil und Bogen waren Erinnerungsstücke von Norbert, die er mir schenkte, bevor sich unsere Wege trennten. Ich habe mich über das Geschenk riesig gefreut. Weil er mir etwas schenkte, was ihm selbst wichtig war. Das war damals in meinem Leben einmalig, dass mir ein Freund das Gefühl vermittelte, wertvoll zu sein. Als mein Vater eines Tages mein Zimmer heimlich durchsuchte, fand er Pfeil und Bogen und entsorgte diese sogleich im Mülleimer. Ich wurde vor vollendete Tatsachen gestellt! Davon war ich natürlich nicht begeistert, um nicht zu sagen, das stieß bei mir sofort auf massiven Widerstand. Denn der Bogen von Norbert war etwas Besonderes für mich!
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