Das Fehlen von wichtigen Erinnerungen zieht sich wie ein roter Faden durch die ersten neun Jahre meines Lebens. Es gibt einige Hinweise, die auf einen Missbrauch, Misshandlung, in meinem Leben hindeuten, um nicht alle meine heutigen Probleme und Verhaltensanomalien nur auf die Alkoholsucht meines Vaters zu schieben. Bisher war ich aus Angst jedoch nicht bereit den genauen Gründen näher auf den Grund zu gehen. Ein Blackout bei einem Kind passiert nicht grundlos. Zudem bin ich aufgrund der Ereignisse die bereits zu diesem Buch geführt haben emotional nicht in der Lage weitere Probleme zu verkraften. Wer kann schon genau sagen, wie sich das Leben gestaltet, wenn man das ans Licht holt, was besser im verborgenen bliebe? Im Grunde ist es ganz einfach: "Die Wahrheit ist zu schmerzhaft, also erinnert man sich besser nicht daran!" Diese Art Trauma ist auch bekannt als dissoziative Störung. Sie wird ausgelöst durch Erlebnisse akuter Lebensbedrohung, das über einen längeren Zeitraum anhält und der man hilflos ausgeliefert ist. Auch starker, rein psychischer Stress in der Kindheit kann ähnlich wirken. Diese Erinnerungsverfälschung ist im Allgemeinen um so stärker beeinträchtigt, je jünger das Opfer, je akuter, länger und häufiger die traumatischen Belastungen waren.
Erwachsene Kinder von Alkoholkranken Eltern fühlen sich zudem minderwertig, besitzen keine Lebensfreude, haben häufig Beziehungsstörungen, können nicht "nein" sagen und keine Veränderungen eingehen und leiden unter gnadenloser Selbstverurteilung. Sie tragen die schmerzhaften Gefühle aus der Vergangenheit in sich. Gerade in Partnerbeziehungen, auch Jahrzehnte später, kommen diese alten Probleme zum Tragen. Sie suchen Nähe aber finden sie nicht, weil sie meist Partner wählen, die unerreichbar, selbst abhängig oder nicht bindungsfähig sind. Sie erleben immer wieder, dass sie allein gelassen werden, fühlen sich in vielen Situationen überfordert, wie in ihrer Kindheit. Diese Erwachsenen sind selbst hoch gefährdet, in eine Abhängigkeit zu geraten, da sie es nicht anders kennengelernt haben, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Sie leiden unter einer erheblichen Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses mit tiefer Verunsicherung bezüglich des eigenen Wertes. Im Erwachsenenalter können vielfältige seelische und körperliche Symptome auftreten. Je früher und schwerer die Traumatisierung in der Kindheit erfolgte, desto schwerwiegender können später die Folgen sein.
Aufgrund der dauerhaft vermittelten Ablehnung und Lieblosigkeit meiner Väter, holte ich mir abends zum Kuscheln, wenn alles schlief, so oft ich konnte, die Jacke von dem anwesenden Vater, um wenigstens auf diese Weise Liebe und Geborgenheit von ihm zu erfahren. Ich wusste sehr viele Jahre nicht, warum ich mich so verhielt. Warum ich dieses Bedürfnis nach seiner Jacke hatte. Ich schämte mich, es überhaupt zu sagen und hielt es geheim. Ich hatte dabei immer das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.
Psychologisch betrachtet, wenn die Zuneigung und Fürsorge der Eltern zu einem Kind fehlt, kann sich eine Verlagerung der Liebe von einem Menschen auf etwas anderes, das als Ersatz für diesen Menschen dient, entwickeln, z.B. ein Kleidungsstück der betreffenden Person. Es ist der Versuch eines Kindes, auf diese Weise Liebe und Geborgenheit zu erfahren.
Meine Situation mit neun Jahren verbesserte sich mit dem Einzug des vierten Vaters "Werner" in Sachen Liebe und Geborgenheit erneut nicht. Seine Schokolade hatte anfangs nur erneut die Hoffnung in mir geweckt, dass es endlich mal ein netter Mann ist, den meine Mutter angeschleppt hat. Den Teufelskreis der Lieblosigkeit setzte er weiter fort, wenn auch nicht mehr ständig mit körperlicher Züchtigung. Den Part übernahm meine Mutter des Öfteren auf seine Anweisungen. Er bestrafte mich gerne auf andere, auf psychische Weise. Hausarrest, Strafarbeit und viele andere Bestrafungsmethoden wurden bei mir angewendet, die mir willkürlich und ungerecht erschienen. Zugegeben, wir waren drei Brüder mit Verhaltensauffälligkeiten aufgrund unserer nicht optimalen Vergangenheit, mit der er sicher überfordert war. Laut meiner Mutter soll er auch auf mich eifersüchtig gewesen sein. Aber ich habe das in der Art nie wahrgenommen. Ich fühlte mich abgelehnt und verstand es nicht. Auch bei ihm lief ich der Liebe eines Vaters viele Jahre hinterher. Das war keine bewusste Entscheidung, das war ein Reflex, ein unterbewusstes Verlangen wie die Suche nach Nahrung. Als Kind kann man nicht benennen, was einem fehlt. Man folgt einer Sehnsucht, ohne zu wissen, was es ist. Wird sie nicht erfüllt, reagiert man mit auffälligem Verhalten, um Aufmerksamkeit zu bekommen, machte blödsinn. Darauf folgten erneute hilflose Erziehungsmethoden und Züchtigungen. Davon abgesehen, das muss man ihm zugutehalten, hatten wir seit seinem Einzug bei uns das erste Mal ein einigermaßen normales, geregeltes Familienleben, ohne die desolaten Zustände und Extreme der Vergangenheit mit den anderen Lebensgefährten meiner Mutter.
Mit etwa neun Jahren entdeckte ich auch Jesus, Gott und den Glauben für mich. Vor allem die christlichen Filme, die ich im Fernsehen sah, die ich für bare Münze hielt, beeinflussten mich total. Jedes Mal brach ich in Tränen aus und war davon ergriffen; ich war wirklich sehr sensibel. Zusätzlich beeinflusste mich meine Oma, die mich oft mit in die Kirche genommen und mir von Gott und Jesus erzählt hatte. Sie war damals der einzige Mensch, der mir offen, selbstverständlich und bedingungslos Zuneigung, Liebe und Geborgenheit entgegenbrachte. Seitdem glaubte ich an Gott wie andere Kinder an den Weihnachtsmann, an den ich übrigens nie glaubte. Ich sah einmal zu Weihnachten durch das Schlüsselloch, als die Eltern die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legten. Und dann bekam man erzählt, der Weihnachtsmann sei vorbeigekommen. Hallo? Der Weihnachtsmann war es jedenfalls nicht! Oder er verkleidete sich als meine Eltern? Über die Jahre wurde Gott für mich so selbstverständlich, wie die Sonne, die auf und untergeht. In meiner Jugend hatte ich sogar den Wunsch Jude zu werden, um Gott möglichst nah zu sein, um auch zu seinem Volk zu gehören. Im Glauben fand ich über die Jahre „Halt“. Denn ich war in meinem Umfeld überwiegend geprägt von Angst, Einsamkeit und Ablehnung. Richtige Freunde fehlten in meinem Leben. Sicher auch geschuldet durch unsere häufigen Umzüge, die Freundschaften zusätzlich erschweren, gar unmöglich machen. Selbst heute nach über 40 Jahren, besitze ich keine einzige Freundschaft. Den Grund kann ich nicht mal eindeutig benennen. Vermutlich liegt es an mir. Kindergeburtstage mit anderen Kindern, die mit mir feiern, gab es schon in meiner Kindheit nicht. Bis auf einen Geburtstag, meinen zehnten. Und das nur, weil meine Lehrerin aus Mitleid die anderen Kinder und deren Eltern dazu überredete. Das Ereignis gestaltete sich in der Weise, dass meine Lehrerin während des Unterrichts verkündete, dass wir heute ein Geburtstagskind unter uns haben. Damit meinte sie mich! Das allein war eigentlich schon peinlich genug. Aber nein, anschließend fragte sie noch, ob ich Geburtstag feiere und wer alles zu meiner Party komme. Woraufhin ich vor der ganzen Klasse anfing zu weinen. Denn niemand wollte aus eigenem Antrieb heraus diesen Tag mit mir verbringen, geschweige denn mit mir spielen. Letztendlich konnte meine Lehrerin einige Eltern aus Mitleid dazu bewegen, ihre Kinder zu meinem Geburtstag zu schicken. An diesem Geburtstag war ich überglücklich, sehr viele Kinder waren gekommen. Er sollte jedoch die goldene Ausnahme bleiben. Ein Jahr später folgte die große Enttäuschung. Voller Hoffnung verteilte ich Geburtstagseinladungen, worauf auch einige zusagten. Aber als alles vorbereitet, gerichtet und gedeckt war, erschien niemand. Keiner war gekommen! Ich wartete stundenlang … Das empfand ich als überaus demütigend. Ich war unglaublich enttäuscht und schämte mich vor meinen Eltern. Was war so schrecklich an mir? Damals verstand ich die Ablehnung nicht, die mir entgegengebracht wurde. Das einzige Positive war, ich hatte die Geburtstagstorte für mich allein. Heute weiß ich, das Verhalten der Kinder lag darin begründet, dass meine Familie bei deren Eltern als asozial galt, es ihnen verboten wurde, mit mir zu spielen. Unsere Vergangenheit, Alkoholprobleme, häusliche Gewalt und der Suizid meines Vaters vor vielen Jahren blieben den Nachbarn nicht verborgen. Alles das war nach Jahren immer noch Dorfgespräch und wurde mit Verachtung gestraft. Es verfolgte uns sogar bis in unser neues Zuhause. Als Kind versteht man ein derartiges Verhalten nicht, man fühlt sich einsam, verstoßen und abgelehnt. Man bezieht das auf sich selbst. Das ist nicht gerade aufbauend für das eigene Selbstbewusstsein.
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