Woher stammt dieser Traum? Wer ist der alte Mann mit dem grauen Bart? Woher stammen die Informationen aus diesem Traum? Die Gänge und Türen im Traum verdeutlichen meinen Lebensweg und die Irrwege, die „Mann“ im Leben geht. Meine Suche nach dem Ausgang, nach dem Sinn des Lebens, nach dem Ausweg aus meiner komplexen Lebenssituation. Das Wartezimmer deutet auf mein „Abwarten“ hin, bis ich den „Ausgang“ betreten darf, bis das Buch letztendlich geschrieben ist. Bisher hatte ich noch nie einen Gedanken daran verschwendet, jemals ein „Buch“ zu schreiben. Dann kann der Traum eigentlich nicht durch mein Unterbewusstsein verursacht worden sein. Es sei denn, es hat eigene Vorstellungen und Ideen, weil es mehr Wissen, mehr Erfahrung, mehr Eindrücke und mehr Kenntnisse über die Geschehnisse besitzt, als man selbst bewusst wahrnimmt. Das könnte eine glaubhafte Erklärung sein. Mein Gefühl sagt mir jedoch, das es eine Intervention von außen war, um mir in der schwersten zeit meines Lebens beizustehen, um eine Dummheit zu verhindern! Dabei finde ich gerade die Art und Weise interessant, wie der alte Mann mir vermittelte, ein Buch zu schreiben. Statt mich zu fragen, welches Buch ich ihm empfehlen kann, hätte er mir auch direkt und unverblümt mitteilen können, dass ich es schreiben soll. Aber er zog es vor, die Situation so zu gestalten, dass ich das Buch empfehle und suggeriert bekomme, dass es bereits geschrieben ist.
Seitdem ich in diesem Buch von meinen Erlebnissen, meinem Leben erzählt habe, kommt mir vieles unwirklich vor. Warum bürdete Gott mir dieses Schicksal mit meiner Homosexualität auf? War meine Kindheit nicht schon schwer genug? Warum ließ er zu, dass ich seit über 30 Jahren Tag ein Tag aus gegen meine Neigung ankämpfen musste, das ich niemals frei sein, nicht einfach nur leben konnte? Warum musste ich mir aufgrund der Bibelverbote jegliche Liebe, Lust und Leidenschaft versagen? Warum hat er mich nicht aus meinem Gefängnis befreit? Warum musste ich jedes Mal, wenn ich in einen Mann verliebt war, durch die Hölle gehen? Warum schenkte er mir nicht das Glück, wonach sich alles in mir sehnte? Warum darf man nicht einfach nur leben, einfach nur frei sein? Oder hatte ich Vorstellungen, die nicht erfüllbar waren? Warum bin ich in meinem Leben immer auf Menschen getroffen, die meine Schuldgefühle verstärkten? Warum ist mehrfach genau das Gegenteil von dem passiert, was mich vorwärtsgebracht, mir geholfen hätte? Warum hat Gott letztendlich, nachdem ich mich selbst aus meinem Gefängnis befreite, dieses unsägliche Leid bei meiner Frau durch mein Outing zugelassen? Warum erkannte ich dabei meine eigenen Fehler, meine Lügen erst so spät? Nie stellte ich mir das Leben und die Liebe so schwer und kompliziert vor. Nie hätte ich gedacht, wie Männer, wie die schwule Welt wirklich ist. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, selber jemals so sehr verletzt zu werden. Gibt es diesen Gott überhaupt? Meine Träume und vor allem Ereignisse, die nach Fertigstellung meines Buches folgten, geben mir Hoffnung und Gewissheit. Denn noch viel schwerwiegender als der Tod des Körpers ist der Tod der Hoffnung, der Tod der Träume.
Wenn wir versuchen ehrenhaft zu leben, wenn wir moralisch gut handeln, wenn es uns gelingt "Richtig" und "Falsch" zu erkennen und letztendlich auch "Richtig" zu wählen, wird am Ende alles gut werden! (E.G.Seidel)
Die Verkettung der Ereignisse – ob glücklich oder unglücklich sei erst einmal dahingestellt – begann bereits kurz vor der Jahrtausendwende mit meinem Arbeitsunfall. Die aus dem Unfall resultierenden Verletzungen, die Verbrennungen, das fehlende Trommelfell und der Tinnitus benötigten Zeit, um zu heilen. Mein Heilungsprozess wurde mit einer sogenannten Sauerstofftherapie unterstützt, um ihn positiv zu beeinflussen. Während dieser Therapie musste ich in einer „U-Boot-Kapsel“ sitzen, auch Tauchkammer genannt, und Sauerstoff unter erhöhtem Druck einatmen. Dabei fand ich mal wieder die Muße, Bücher zu lesen, statt meiner seit vielen Jahren anhaltenden Computerspielsucht nachzugehen. Gerade das Lesen brachte etwas in Bewegung, das mir erst viele Jahre später bewusst wurde. Ähnlich einem Dominoeffekt, wenn der erste Stein umgefallen ist. Ich saugte Bücher in mich auf, die die Kirche und ihre Geschichte kritisch betrachten. Werke wie:
„Im Namen Gottes“
„Als die Kirche Gott verriet“
„Die Inquisition“
„Die Kreuzzüge“ und einige mehr.
Mein Wissensstand über Kirche, Gott und Glauben war bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr fast nur von der Bibel und keinem anderen Buch geprägt. Was nicht im Einklang mit den Bibelgeschichten stand, fand nicht den Weg in mein Bewusstsein oder wurde von mir als Lüge abgetan. Das Lesen dieser kritischen und sündhaften Bücher säte weiteren Wissensdurst, der dazu führte, dass ich mir auch außerhalb der Sauerstofftherapie Zeit für Bücher und für Dokumentationen nahm. Ich wollte erfahren, was richtig und was falsch ist. Es begann die Zeit, in der ich das hinterfragte, woran ich glaubte. Der Sauerstoff hatte vermutlich auch dazu geführt, dass mein Gehirn endlich einmal arbeitete. Wer weiß, was zuvor in meinem Kopf abgelaufen ist? Bereits seit meiner Jugend befand ich mich in einem psychologischen Glaubensgefängnis, das dazu führte, dass ich meine homosexuelle Neigung unterdrückte, dass ich eine Ehe mit einer Frau einging, die ich belog – meine wahren sexuellen Gefühle betreffend.
Seit der Jahrtausendwende, seit dem Lesen kritischer Bücher und dem ausgelösten Zweifel an meinem Glauben, begann dieses neue Wissen immer mehr an meinen Mauern zu rütteln. An dem Bollwerk, in das ich meine homosexuelle Neigung eingekerkert hatte. Es wurden Fragen ermöglicht, an die ich zuvor nicht einmal zu denken wagte. Fragen, die ich nie zugelassen hatte, fanden den Weg in mein Bewusstsein. Mein Fundament „Die Bibel“, die Wahrheit Gottes, blieb dabei noch lange unangetastet und war über jede Kritik erhaben. Das Problem, dass die Bibel für mich unantastbar war, entstand bereits in meiner Kindheit, als der Glaube bei mir auf fruchtbaren Boden fiel. Eigentlich begann es mit meiner ersten Bibel, die ich bei meinem Opa entdeckte, den Erzählungen meiner Oma und den christlichen Filmen im Fernsehen, die ich mit diesem Buch verknüpfte. Daraufhin las ich immer öfter in dem Buch der Bücher, auch wenn ich anfangs wenig von dem verstand, was dort geschrieben stand. Nachdem ich viele Jahre später in meiner Jugend meine verwirrte Neigung und darauf die Verbote in der Bibel entdeckt hatte, entstand daraus ein Teufelskreis aus Glaubensregeln und Verboten, die das Unterdrücken meiner Homosexualität überhaupt erst ermöglichten. Denn ich wollte vor Gott nicht sündigen, sondern erstrebte, in den Himmel zu kommen. Um das zu erreichen, darf „Mann“ seine sündhafte Homosexualität laut Bibel natürlich nicht ausleben.
Wahrscheinlich hielt ich an meinem von der Bibel geprägten Weltbild fest und ließ keinen Zweifel zu, weil mein Glaube bereits seit meiner Kindheit in mir bestand. Die Gründe für mein damaliges Denken und Handeln kann ich heute jedoch nur vermuten. Ich bin kein Psychologe und kann nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Einflüsse mir in meinem Leben diese Scheuklappen angelegt haben, die mich dazu bewogen, derart extrem und lange an der Bibel festzuhalten, meine Homosexualität zu unterdrücken, ohne Fragen zu stellen. Um zu verdeutlichen, wie stark ich im Glauben verankert war, wie die Bibel diese wichtige Stelle in meinem Leben einnehmen konnte, wie konsequent ich aufgrund meines Glaubens später gegen meine Homosexualität, meine sündige Natur ankämpfte, um Gott zu gefallen, und überhaupt, wie alles begann, wie ich in dieses Glaubensgefängnis geriet, möchte ich in groben Zügen die Zeit meiner Kindheit, meiner Jugend, die Entdeckung meiner verwirrten Sexualität und die Jahre danach, in denen ich meine heutige Frau kennenlernte und heiratete, näher erläutern. Weil ich nicht genau weiß, an welchem Punkt ich beginnen soll, nehmen wir einfach den Tag, an dem ich das Licht der Welt erblickte.
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