Sam spürte einen festen Griff am rechten Oberarm und wurde gleich darauf mit einem kräftigen Ruck weggezogen. Er blickte in die mürrischen Gesichter mehrerer uniformierter Sicherheitsbeamten des Flughafens, die ihn nun schützend umzingelt hatten und Schritt für Schritt durch den Menschenauflauf durch den Empfangsbereich führten. Sam sah sich immer wieder um. Er wusste, dass seine Eltern irgendwo in der Menge ihn warteten. Nur entdecken konnte er sie nicht. Er stolperte mit der Security zu einer Seitentüre, die kurz danach geöffnete wurde, und er war in Sicherheit. Sie brachten ihn in den VIP-Bereich des Airports, wo er erschöpft und sichtlich fassungslos in einen der Sessel fiel. Sam brachte noch heraus, dass seine Eltern zu ihm geholt werden sollen und man versprach, sie ausrufen und hierher bringen zu lassen. Nach einigen Minuten, die ihm schier endlos vorkamen, erschienen Ester und Jakob Goldman in der abgeschirmten Lounge, und sie fielen sich überglücklich in die Arme.
Paul Wayne war bei NCCB eine Institution. Er galt als knallhart und war berüchtigt für sein untrügliches Gespür für erfolgreiche TV-Formate und gute Stories. Er hatte nun schon mehr als dreißig Jahre Erfahrung auf dem Buckel und zog erbarmungslos, mit traumwandlerischer Sicherheit für Effekte und Quoten, an den Strippen des Senders. Wayne war ein Halbgott der Branche, ach was, ein Gott. Er war einer der Vorreiter der Sensationsberichtserstattung, und peitschte seine Reporter und Journalisten mit unablässiger Dominanz stets an die vordersten Stellen der Brennpunkte. Er war die graue Eminenz des Geschäfts. Er bewegte seine Mitarbeiter wie Marionetten, und wer nicht mithielt, wer die gewünschten Erfolge nicht brachte, flog schnell im hohen Bogen aus seinem Team, meist gleich aus dem Sender. Aber wer es bei ihm schaffte, war gleichsam zum Ritter geschlagen.
Wayne war schlank und hatte, mit nun schon fast sechzig Jahren, volles weißes Haar. Er trug dieses stets mit Festiger versetzt nach hinten gestriegelt, und hielt hieran, gleich einem Markenzeichen, seit Anbeginn seiner Fernsehtage fest. Diese Frisur verlieh ihm das Aussehen eines sensiblen und kunstverliebten Orchesterdirigenten. Sein dicker, grauer Schnauzbart war durchaus in der Lage, diesen Eindruck zu unterstreichen. Wer Paul Wayne aber kennenlernte, stellte schnell fest, dass dieser Mann weder ein Hort schlummernder Urgemütlichkeit, noch zartfühlender Empathie war.
Wayne saß, wie immer im weißen Oberhemd und mit breiten blau-weiß-roten gestreiften Hosenträgern, in seinem Büro und hatte am großen Besprechungstisch Platz genommen. An diesem Tisch fand sich täglich die Prominenz seiner Journalisten zusammen, zur Chefredeaktionsbesprechung. Vor ihm stand ein dampfender Kaffeebecher – sein Kaffeebecher – auf dem der Spruch stand: TV ist Krieg. Er bezeichnete sich selbst als Warlord der Medien, als Heerführer von Elitesoldaten mit Kamera, Mikrofon und Schnittraum. Es war noch früh am Morgen, der Tag nach Samuel Goldmans Rückkehr.
Wayne hatte seine Brille, die ihn mit ihren breiten schwarzen Rändern nochmals bedrohlicher aussehen ließ, auf die Stirn geschoben, drehte nachdenklich, mal nach links, dann wieder rechts, seinen Kaffeebecher vor sich auf der Tischplatte, und er verharrte in dieser Position, als Mary Thompson den Raum betrat. Sie setzte sich sogleich, wie immer ohne dazu von ihrem Chef aufgefordert worden zu sein, zwei Stühle neben ihn, und knallte ihren eigenen Becher mit schwarzem Kaffee unüberhörbar auf den Tisch. Dann wandte sie sich, ohne die Eröffnung von Wayne abzuwarten, direkt an ihn.
„Lass` mich raten, Paul,“ begann Mary, „es geht um die Goldman-Story! Und Du wirst mir gleich mit ewiger Verdammnis und dem Höllenfeuer drohen, falls ich Dir diese nicht sofort exklusiv besorge.“
Mary Thompson schaute dabei mit ihren sanft wirkenden, großen braunen Augen auf Paul Wayne, der immer noch mit leicht gesenktem Kopf da saß und seinen Becher drehte. Er kannte Mary nun einige Jahre. Zunächst war sie ihm beim Wettbewerbssender CKC aufgefallen, dann, nachdem er sie in einem eineinhalbminütigen Gespräch abgeworben hatte, war sie zur Elite in seinem Team aufgestiegen. Sie entpuppte sich unmittelbar als Universalwaffe für besonders knifflige Reportagen. Mary sah blendend aus. Und das war ihrem Chef überhaupt nicht egal, denn ihre Schönheit war eine häufig entscheidende Eigenschaft im Kampf um Interviews und exklusive Reportagen. Ja, Mary hätte durchaus Karriere als Modell machen können, auch jetzt noch, trotz ihres Alters von zweiunddreißig Jahren. Sie trug mit Vorliebe blaue Kostüme, mit engen Röcken, die eine Handbreit über den Knien ihre langen und schön geformten Beine zur Geltung brachten. Aber Paul sah sie nicht als Frau, sie war allein Teil seines Arsenals, eine Waffe, eine extrem erfolgreiche Söldnerin, zudem mit höchsten Einschaltquoten.
Zwischen Marys Eröffnung und Pauls Antwort vergingen ein, zwei Minuten des Schweigens. Mary wartete geduldig ab. Sie kannte diese Situationen und wusste, dass sie ihm nun das Wort zu lassen hatte. Paul beendete urplötzlich sein Schweigen und blickte mit scharfem, stechenden Blick aus seinen hellblauen Augen auf seine Mitarbeiterin.
„Vielleicht ist es nur eine Eintagsfliege, diese Goldman-Sache“, begann er leise, „vielleicht ist das Ganze der Mühe nicht wert. Der einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes ist dann sicher nicht Programmfüller für viele Wochen, aber …. Irgendeine Stimme in mir schreit danach, die Story zu kriegen. Ja mehr noch. Meine Nase, ja, mein ganzer Körper, selbst beim Pissen, sagt mir: Paul, da steckt was drin. Das hat Potenzial. Ich rieche es förmlich.“ Und nach einer winzigen Pause fügte er hinzu: „Mary, ich will Goldman für NCCB, habe ich mich klar genug ausgedrückt?“
Mary nickte kurz und stand auf. „Es wäre für mich auch unerträglich dafür verantwortlich zu sein, dass Du auch noch auf dem Klo Stimmen hörst und Dir vor Schreck die Schuhe vollpinkelst.“ Sie nahm ihren Kaffeebecher und ging zur Türe. Dann drehte sie sich noch einmal zu ihrem Chef um. „Ich habe also freie Hand … freies Budget …?“
Paul Wayne hatte seinen Kopf wieder gesenkt und drehte erneut seinen Becher herum. Und als er kurz nickte, ging Mary hinaus und schloss die Tür hinter sich. Ein kurzes Aufatmen, dann drückte sie ihr Kreuz durch und verschwand mit vernehmbarem Klackern ihrer Absätze in ihr kleines, dafür aber umso schöner gestaltetes Büro.
Wayne grinste vor sich hin. Das war seine Mary, unverwechselbar. Und er lächelte weiter. `Goldman, Du kleiner Scheißer. Was ist dran an Dir? Was birgst Du für ein Geheimnis? Irgendwas ist da … ich weiß es. Und ich werde Dich kriegen, darauf kannst Du Deinen Arsch verwetten´.
Mary Thompson saß bereits schon wieder auf ihrem Schreibtischstuhl. Sie hatte ihren Assistenten vor sich und diktierte ihm gerade die ersten Anweisungen. Peter McDorman sollte das Team zusammenholen, und zwar gleich. Zudem hatte er sich höchstpersönlich selbst an die Arbeit machen und alles – wirklich alles – über Samuel Goldman aus Greenville, South Carolina, in Erfahrung zu bringen.
„Peter“, begann sie knapp und ein wenig herrisch, „durchleuchte den Kerl von Kopf bis Fuß, ist das klar? Ich will alles über ihn wissen, wann er das erste Mal onaniert hat, die Lieblingsfarbe seiner Unterhosen oder ob er überhaupt welche trägt. Vorlieben, Laster, ob er pervers ist und wenn ja, Bilder dazu. Kurzum: Ich will ihn nackt und nach vorn gebeugt vor mir haben.“ Sie wollte ihren Assistenten damit schon herausschicken, doch dann fügte Mary noch hinzu: „Zuerst aber besorg mir alle seine Telefonnummern, Emailadressen und … Du weißt schon. Alles, damit ich mit unserem Goldstück Kontakt aufnehmen kann. Also auch die Nummern seiner Frau, seiner Geliebten, seines Hundes und natürlich der Familie – das alles bitte bis gestern!“
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