Ein anderer Lehrer an der Hindenburgschule, den ich in meinem zweiten Quartaschuljahr als Klassenlehrer habe, flößt mir großen Respekt ein nach einem Beispiel hoher Zivilcourage von seiner Seite. Am Anfang der Peterstraße, nicht weit von unserer Schule entfernt, ist eines Mittags nach Schulschluß ein Auflauf von Schülern vor der Synagoge mit viel Gejohle und Pöbelei der Jungen, womit sie ein Hochzeitspaar, das vorher in dem Gotteshaus getraut worden ist und jetzt in einer Hochzeitskutsche den Ort seiner Trauung verlassen will, aufs häßlichste belästigen. Der Synagogendiener, Herr Hesse, hat große Mühe, der Kutsche mit dem Paar den Weg frei zu machen. Prof. Grathand, der zusammen mit einem Kollegen vorbei kommt, eilt voller Zorn auf die Jugendlichen und versucht sie mit lautem Schelten und auch mit Ohrfeigen zu vertreiben und unterstützt so den Synagogendiener in dessen Bemühen. Als ich den Vorfall zu Hause erzähle, sagt Schwester Ilse: „Das war aber sehr mutig von eurem Lehrer“. Und Mutter meint zu mir: „Du hast dich doch hoffentlich nicht an dem Krawall beteiligt?“ Aber das hatte ich wirklich nicht. Mich wunderte, daß der andere Studienrat seinem Kollegen, Prof. Grathand, nicht zu Hilfe kam. Obwohl der Professor ein strenger Lehrer war, habe ich von da an in ihm einen Mann gesehen, der viel Mut gegen einen Zeitgeist aufbrachte, dessen Nichtswürdigkeit wir Jungen damals allerdings nicht richtig einzuschätzen lernen durften.
Nach seinem Schulverweis ist EA plötzlich einen ganzen Tag verschwunden. Ich gehe abends auf den „Bummel“, den abendlichen einstündigen Rundgang der älteren Schüler auf dem oberen, der Heiligengeiststraße näherem Teil der Langenstraße, um zu sehen, ob EA dort ist. Hier kommt seine Freundin Helga zu mir und fragt mich nach ihm. Sie weiß schon Bescheid über EAs Schulverweis, ist sehr besorgt und bittet mich, ihn gemeinsam mit ihr zu suchen. Wir laufen alle möglichen Orte ab, wo EA hätte sein können und kommen auch in die Schleusenstraße, gehen auf die Schlossgartenbrücke über die alte Hunte, bleiben in der Mitte der Brücke stehen und sehen nach unten auf die Alte Hunte. Es ist Winter, eine Eisdecke liegt auf dem Wasser und unter der Brücke ist ein Loch in der Eisdecke. Ich sage: „Hoffentlich hat er sich da nicht runtergestürzt.“ Helga fängt an zu schluchzen und ruft: „Oh Gott, sag doch so was nicht!“ Wir geben schließlich die Suche auf und jeder geht nach Hause in der Hoffnung, daß EA sich schließlich doch noch eingefunden hat. Ich bin froh, als ich sehe, daß er wieder zuhause ist und ich erzähle ihm von meiner und Helgs Suche nach ihm. Er geht noch mal weg, um Helga zu beruhigen. Sie hat ihn wirklich geliebt, doch verlieren sich beide durch EAs folgende Abwesenheit von Oldenburg aus den Augen.
EA muß noch vor Ende des Schuljahres 1937 die Schule verlassen. Er meldet sich freiwillig zum Reichsarbeitsdienst, wo er schon nach einem halben Jahr zum außerplanmäßigen Truppführer ernannt wird. Er überspringt damit die Mannschaftsdienstgrade Vormann und Obervormann und erhält Aussicht, die gehobene Führerlaufbahn anzutreten. Nach einem weiteren halben Jahr läßt er sich vom RAD beurlauben, um seinen zweijährigen Wehrdienst zu leisten.
Der Reichsarbeitsdienst (RAD) war 1935 durch Reichsgesetz ins Leben gerufen worden. Die Idee stammte jedoch aus der Zeit der großen Arbeitslosigkeit ab 1929. Anfang der dreißiger Jahre war das Gesetz über einen freiwilligen Arbeitsdienst unter dem damaligen Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrumspartei) verkündet worden. Junge arbeitslose Männer konnten freiwillig – in Arbeitslagern untergebracht und versorgt, nur mit einem Taschengeld entlohnt – gemeinnützige oder auch landwirtschaftliche Arbeit verrichten. Von den Nazis und den Kommunisten wurde dies Gesetz abgelehnt. Die militanten Verbände des „Reichsbanner Schwarz Rot Gold“ und des „Stahlhelm“ errichteten Arbeitslager auf dem Lande und in den Mooren. Unser Vater war Mitglied des „Stahlhelm“ mit einem damals gehobenen Dienstgrad. Als ehemaliger Zahlmeister der alten kaiserlichen Armee wurde er zum Verwalter eines vom „Stahlhelm“ betriebenen Lagers des Freiwilligen Arbeitsdienstes ernannt. Er bekam hierfür zwar nur eine geringe Aufwandsentschädigung, aber er tat die Arbeit gern, entsprach sie doch ungefähr seinem beim Militär erlernten Beruf. Wenn er das Arbeitslager aufsuchen mußte, ließ er sich immer von seinem Schwager Dietrich Linnemann fahren, der wie unser Vater, auch – allerdings einfaches – Mitglied des „Stahlhelm“ war. Das Lager war in der Gegend von Wüsting. Ich durfte einmal mitfahren und erinnere mich an viele junge Männer, die mit Spaten und Schaufeln im Gelände arbeiteten. Das Taschengeld, das die Freiwilligen für ihre Arbeit erhielten, war höher als das, was die Arbeitsmänner später im Reichsarbeitsdienst (RAD) bekamen. „Fünfundzwanzig Pfennig ist der Reinverdienst!“ hieß es in einem Spottvers nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Reichsarbeitsdienst im Juni 1935.
Ein freiwilliger Arbeitsdienst mit ähnlicher Entlohnung wie beim freiwilligen Arbeitsdienst in Deutschland entstand in den 30er Jahren während der Weltwirtschaftskrise auch in den USA unter dem Präsidenten F.D. Roosevelt. Er erhielt dazu vom Parlament in Washington finanzielle Mittel, um unter anderen Vorhaben z. B. auch zur Verwirklichung der „Tennessee Valley Authority“, einer Behörde mit dem Ziel, das Notstandsgebiet im Tal des Tennessee Flusses zu sanieren. Hierzu wurden ebenfalls freiwillige Erwerbslose angestellt. Mit den so gewonnenen Anlagen zur Errichtung elektrischer Kraftwerke entstanden in Tennessee neue Industriebetriebe mit zahlreichen Arbeitsplätzen.
Während des zweiten und dritten Jahres an der Hindenburgschule bin ich Mitglied im Chor der evangelischen Garnisonkirche an der Peterstraße. Der Chor hat nur männliche Mitglieder, Leiter ist unser ehemaliger Musiklehrer im 1934 aufgelösten Reform-Realgymnasium, Theodor Storckebaum. Er erkennt mich gleich nach meinem Antritt wieder und steckt mich zu den Sopranjungen. Die Altisten sind etwas ältere Schüler, Tenor und Bass besteht aus gestandenen Herren im gesetzten Alter. Wir Jungen erhalten 10 Reichsmark alle drei Monate für unsere Bereitschaft, jeden Sonntagvormittag beim Gottesdienst vor und nach der Predigt dem kirchlichen Jahresverlauf entsprechende Motetten zu singen und an den hohen kirchlichen Festtagen Weihnachten, Karfreitag und Ostern zusammen mit dem größeren Chor der Lambertikirche an der Aufführung des Weihnachtsoratoriums von J.S. Bach, seiner Matthäuspassion und der Osterkantate mitzuwirken. Jeden Freitagnachmittag wird für die Sonntagsmotetten geübt, für die Feiertage werden besondere Übungszeiten angesetzt. Von dem Verdienst kaufe ich mir mein erstes Fahrrad und später noch weiteren Schnickschnack dazu.
Die Eltern bringen mich in der privaten Comeniusschule unter, wo ich noch einmal die Untertertia mit Erfolg wiederhole. Nach dem zu der Zeit geltenden Schulrecht müssen die Leitungen privater Lehranstalten Abgangszeugnisse staatlicher Schulen berücksichtigen. Doch auch diese Schule wird aufgelöst. Das NS-Regime duldet keine privaten Schulen außer den katholischen, deren Weiterbestehen das Regime nach dem 1933 mit dem Vatikan abgeschlossenen Konkordat bestehen lassen muß. Schade, ich fühle mich auf der Comeniusschule wohl. Es herrscht dort geringerer Zwang als an den öffentlichen Lehranstalten, weswegen sie nach 1933 von Gegnern der privaten Lehranstalten abfällig „Comeniusuniversität“ genannt wird. Der Schulalltag ist nicht von Ängsten begleitet, wie sie vor allem auf der „Hindenburgschule“ unter ihrem nationalsozialistischen Schulleiter für mich und andere, auch Bruder EA, alltäglich ist und wo keine Gnade bei Versagen zugelassen wird. Persönliche Interessen werden an der Comeniusschule zumindest beachtet, soweit sie ernsthafter Natur sind. Die Leitung der Comeniusschule hat Frau Clara Maria Arnold *), nicht forsch genug für die Aufgabe, den Forderungen der Nazis gerecht zu werden, aber bestrebt, den Schülern gute Bildungsmöglichkeiten zu bieten. Die Schule hat zwar den Status einer höheren Schule, führt jedoch keine Oberstufe und bietet damit ihren Schülern auch nicht den Abschluß mit Abitur. Dies müssen sie nach Übergang auf eine staatliche Oberschule dort absolvieren, was nach 1934 mit der neuen Schulpolitik der Nazis kaum noch möglich ist.
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