Zweite Grundschulklasse in der Schule an der Margaretenstraße 1929. Der Junge in dervordersten
Reihe rechts mit herunter gerutschtem linken Strumpft bin ich, Hans H. Hanemann
Ein anderes Mal trinke ich im Waschraum vor der Toilette Wasser aus der Leitung und sage zu einem ebenfalls seinen Durst stillenden Klassenkameraden: „Das Wasser schmeckt richtig nach
Scheiße“. Dies hört der im Nebenraum gerade anwesende Hausmeister. Er kommt sofort zu mir und fordert mich auf, zu wiederholen was ich gesagt habe. Da ich mich weigere, sagt er mir sogar vor „Das Wasser schmeckt nach ...na, wonach schmeckt es, sag es noch mal“. Ich erinnere mich nicht richtig, wie es weitergeht, glaube aber, daß der Hausmeister es mit meinen Tränen bewenden läßt.
Der „Diener“ ist nach Beginn der Naziherrschaft nicht mehr zeitgemäß und auch als „undeutsch“ denunziert. Deswegen sollen alle „Volksgenossen“, auch die kleinsten, mit schräg erhobenem rechten Arm – dem faschistischen Gruß – laut und vernehmlich „Heil Hitler“ grüßen.
Mein Weg zur Schule und zurück nach Hause führt mich immer über die Peterstraße (benannt nach Peter Friedrich Ludwig, um 1800 Herzog von Oldenburg, Bischof zu Lübeck, Erbe zu Norwegen, Herzog zu Schleswig, Holstein, Storman und Dithmarschen). In der Mitte an der Einmündung zur Georgstraße steht die einzige katholische Stadtkirche. Hinter dieser Kirche, am Anfang der nach links verlaufenden Georgstraße, gibt es eine katholische Volksschule. Etwa 50 Meter Richtung Stadtmitte kurz vor der Brücke über die Haaren gibt es noch eine städtische Volksschule, die nur von evangelischen Schülern besucht wird. Mein Weg führt mich immer durch diese Gegend. Als ich eines Mittags auf dem Nachhauseweg die Peterstraße überqueren will, ist fast kein Durchkommen, weil sich in der Straße – wie mir scheint, auf ihrer ganzen Länge von ca. 400 Metern – ältere katholische und evangelische Volksschüler eine regelrechte Straßenschlacht liefern. Die Polizei ist schon im Überfallwagen angerückt und einzelne Polizisten in ihren blauen Uniformen und schwarz gelackten Tschakos versuchen, die Schüler auseinander zu bringen. Pöbeleien zwischen den Schülern beider Schulen hat es schon immer gegeben, daß sie aber zu solchen Unruhen ausarten, ist neu.
Daß politische Spannungen die Ursache waren, ist nicht ganz auszuschließen. Das Land Oldenburg ist konfessionell zweigeteilt, der Norden ausnahmslos evangelisch, der Süden größtenteils katholisch. Die Lage der Stadt Oldenburg, Hauptstadt und Regierungssitz des damaligen Freistaates Oldenburg (und seiner beiden exterritorialen Landesteile Lübeck-Land und Birkenfeld im heutigen Rheinlandpfalz) in der Mitte der beiden Konfessionsgebiete kann sie leicht zum Schwerpunkt von Streitigkeiten zwischen den Anhängern der beiden Konfessionen machen. Die Oldenburger lutherische Kirche ist in der Zeit streng national orientiert. Keine größere „vaterländische“ Feier einer nationalen Organisation, an der die evangelische Kirche nicht irgendwie – gewöhnlich mit einem „Feldgottesdienst“ – beteiligt ist. Die demokratische Republik wird nur als Übergang zur Wiederherstellung der Monarchie gesehen. Die politische Heimat der meisten Katholiken ist die vorwiegend katholische Partei des Zentrum, die sich zur Republik bekennt und im Berliner Reichstag bis Ende der zwanziger Jahre zusammen mit den Sozialdemokraten und der Demokratischen Partei die parlamentarische Mehrheit besitzt, bei zunehmender Arbeitslosigkeit allerdings mit schwindender Tendenz.
Für mich und meine damaligen Spielgefährten, die wie unsere Familie der ev.-luth. Kirche angehören und auch in ihrem Sinne erzogen werden, übt die katholische Kirche mit allem, was zu ihr gehört, einen exotischen Reiz aus. Zu gern versuche ich, mal einen Blick ins Innere der katholischen Kirche in der Peterstraße zu bekommen, wenn für einen Moment die schwere Außentür offen steht. Es scheint da drinnen alles sehr bunt zu sein mit vielen Bildern und Figuren, ganz anders als in unseren evangelischen Kirchen mit ihren schmucklosen, eher nüchternen Einrichtungen.
Das dritte und vierte Grundschuljahr absolviert unsere Klasse in der alten Schule an der Brüderstraße. Von einem Schulleiter in der Grundschulabteilung an der Margarethenstraße wussten wir nichts. Hier an der Brüderstraße herrscht der Konrektor, Herr Lienemann, ein älterer und ziemlich gefürchteter, weil sehr strenger Lehrer, bei dem wir mehrere Wochen Unterricht haben, weil unser Klassenlehrer krank ist. Im Unterschied zu diesem schlägt er jedoch nicht; dafür straft er schon bei leichten Vergehen gegen die Schulordnung mit Strafarbeiten und Nachsitzen bzw. Vorsitzen, wenn unser eigentlicher Unterricht erst später als 8 Uhr beginnt. Bemerkenswert an beiden Schulen ist, daß wir Schüler Gehorsam zu lernen haben und uns dies auch mittels Prügel mit einem Rohrstock, den die meisten Lehrer besitzen, sowie Nachsitzen und Strafarbeiten eingebläut wird. Ich erinnere mich allerdings an Fräulein Schwecke, die uns im Schönschreiben und Zeichnen unterrichtet und immer freundlich zu uns ist und bei der wir gern lernen. Ich begegne ihr wieder, als ich 1947 als Externer an der Realschule in der Margarethenstraße meine Abschlussprüfung nachhole. Sie prüft mich in Biologie und Englisch.
Es gibt Schulkinder, die nicht unter der Strenge der meisten Lehrer und Lehrerinnen zu leiden haben, weil sie immer gehorsam sind, brav ihren Diener machen, nicht im Unterricht mit ihrem Schulbanknachbarn schwatzen, nie aus der Reihe tanzen, sondern stets tun, was von ihnen verlangt wird. Den Lehrkräften muß unbedingt mit dem allergrößten Respekt begegnet werden; manche sind besonders gefürchtet. Dieses autoritäre System *)hat sich noch aus der Kaiserzeit in die „Republik von Weimar“ retten können. **)Die Ausbildung des Lehrpersonals für Grund- und Volksschulen hat für die meisten Lehrkräfte noch in der Kaiserzeit stattgefunden. Viele Lehrer sind im Kriege gewesen, was ihren pädagogischen Fähigkeiten wohl nicht gerade förderlich ist. Junge Lehrer und Lehrerinnen für Grund- und Volksschulen sind wie in der Kaiserzeit in staatlichen Lehrerseminaren ausgebildet. Dies ist kein Hochschulstudium und wohl kaum von fortschrittlichen pädagogischen Lehrmethoden beeinflußt, die es nach dem Ersten Weltkrieg schon gab.
*)Es gibt schon „Reformschulen“, betrieben nach damals modernen pädagogischen Grundsätzen mit weniger oder keiner autoritärer Erziehung. Sie sind meistens als staatlich anerkannte Privatschulen oder staatliche Einrichtungen in der Reichshauptstadt Berlin und in anderen großen Städten angesiedelt. In Oldenburg gibt es nur die Comeniusschule, eine staatlich anerkannte Oberrealschule für Mädchen und Jungen, die aber keine Oberstufe aufweisen kann, und das katholische Lyzeum für Mädchen.
**)In Weimar tagte 1919 die Verfassung gebende Nationalversammlung der ersten deutschen Republik, die von monarchistisch und nationalistisch eingestellten Kreisen abfällig die „Republik von Weimar“ genannt wurde.
Wir sind zwischen dreißig und vierzig Schüler in der Klasse. Unser Klassen- und in den ersten beiden Schuljahren einziger Lehrer während der vierjährigen Grundschulzeit, Herr Purnhagen, kann streng sein, aber auch jovial. Er hat seine Lieblinge, doch auch solche, die hin und wieder von ihm über die vorderste Schülerbank gezogen und mit seinem Rohrstock einiges hinten drauf kriegen. Die häufigsten Strafen für irgendwelche, oft geringfügige, Verfehlungen sind „Eckenstehen“ – der Schüler muß sich in eine der hinteren Ecken des Klassenzimmers mit dem Gesicht zur Wand stellen – und Nachsitzen, entweder mittags nach Ende des Unterrichts oder am Nachmittag, was besonders unangenehm ist, da wir das ja zu Hause mitteilen und erklären müssen. Während des Nachsitzens hat der Schüler irgendeine meist stupide schriftliche Arbeit zu erledigen, z.B. -zig mal schreiben „Ich darf im Unterricht nicht mit meinem Nachbarn schwatzen“. Solche phantasielosen Aufgaben werden auffälligen Schülern („unbotmäßigen“, eine unter den damaligen Lehramts-Pädagogen beliebter Ausdruck) häufig auch als „Strafarbeiten“, also als zusätzliche Hausaufgabe, aufgebürdet.
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