Ich habe Sexta und Quinta *)mit befriedigenden Noten absolviert und komme nun auf die Oberrealschule (etwas später in „Hindenburgschule“ umbenannt, jetzt „Herbartgymnasium“) in die Quarta, Ernst August (EA) auf derselben Schule in die Untertertia.
Während dieser Zeit bin ich im Sommer mit ein paar Freunden einige Male zum Baden in der „Tonkuhle“, die in der Nähe des Weser-Ems-Kanals liegt und von der parallel laufenden Landstraße nicht eingesehen werden kann. Die Tonkuhle entstand als Aushub während des Kanalbaus und der Straße in den 1920er Jahren und blieb lange in einem nicht weiter bearbeiteten Zustand. Sie ist bis zur Hälfte voll Regenwasser, hat etwa die Größe eines Fußballplatzes und man kann wegen der Stufen am Ufer dort sitzen oder langsam ins lehmiggraue Wasser hinein steigen, das an der tiefsten Stelle kaum über meinen Kopf reicht. Ein Schild an der Kuhle besagt: „Baden auf eigene Gefahr“. Unsere Fahrräder haben wir so abgestellt, daß sie von der Straße nicht gesehen werden können. Wir baden ohne Badehose und bewegen uns auch so an den stufenartigen Ufern der Tonkuhle, treiben sexuelle Spiele, indem wir wetteifern, wer am schnellsten nach einer Selbsbefriedigung diese wiederholen kann, wer am meisten oder am weitesten abspritzt, auch wer am weitesten pinkeln kann. Und wir begutachten gegenseitig unser erigiertes Glied und staunen auch wohl: „Ooooh, deiner ist aber hart!“. Es ist niemand da, der Anstoß nehmen kann an unseren Spielen, und so fühlen wir uns sicher und haben Spaß an unseren verbotenen Aktionen.
Bei der Lektüre „Katz und Maus“ von Günther Grass erinnere ich mich an unsere pubertären Spiele in der Tonkuhle. Bei uns war allerdings kein Mädchen dabei, wie bei Grass beschrieben, das die Jungen während ihrer Handfertigkeiten noch befeuerte. Das hätten wir auch nicht gewollt und auch nicht gewagt.
Da von unseren kleinen Ferkeleien natürlich kein Erwachsener erfahren darf, haben wir uns gegenseitig strengstes Stillschweigen gelobt, auch gegenüber anderen Jungen. Wir hätten strengste Strafen zu gewärtigen, wenn unsere Spiele in der Öffentlichkeit bekannt werden sollten.
Der Mangel an Offenheit gerade bei sexuellen Belangen während der Zeit unserer Jugend und auch vorher und noch Jahrzehnte danach ist heute, da ich dies niederschreibe, nicht mehr zu verstehen. Sie ist wohl mit verantwortlich für die Verklemmtheit älterer Menschen, den in ihrer Kindheit und Jugend nur Tabus in ihrer sexuellen Entwicklung anerzogen worden waren.
Nach dem Schulwechsel vom Reformrealgymnasium zur Oberrealschule (kurze Zeit später Hindenburgschule benannt) beginnt mein schulischer Abstieg: Quarta muß ich im folgenden Jahr wiederholen, nach Untertertia die Schule verlassen **).
*)Die Klassenfolge an den höheren Schulen war Sexta, Quinta, Quarta, Untertertia, Obertertia, Untersekunda (erster Schulabschluss möglich, er entsprach der Mittleren Reife, dem heutigen Realschulabschluss), Obersekunda, Unterprima, Oberprima (mit Prüfung zum Abitur).
**)An dieser Schule gab es Lehrer, denen man pädagogische Fähigkeiten – nach heutigen Anforderungen – absprechen würde. Der Studienrat für Biologie z. B., ein strammer Nazi, erschien nie ohne Parteiabzeichen am Revers seines immer gleichen, gauen Anzugs mit Bundhose, wenn er nicht einige Male, bei besonderen nationalen oder nationalistischen Anlässen, stolz Parteiuniform trug. Sein Unterrichtsthema war vor allem die germanische Urzeit mit ihren tapferen Kriegern, ihren hehren Frauen, ihren Steinwerkzeugen wie Faustkeilen und Speerspitzen, und er stellte uns diese Urmenschen in seinem schnarrenden Ton als unsere Vorbilder vor. Ein anderer – bekannt unter dem Spitznamen „Nauke“, gab vor allem Unterricht in Französisch. Er war ein dunkler Typ, was durch seinen schwarzen, allerdings schon etwas fleckig gewordenen, Anzug sich noch besonders hervorhob. Wenn er schlechter Laune war, hagelte es in seinem Unterricht Fünfen. Ein „Galgen“ bedeutete in seinem Notizbuch fünfundzwanzig Fünfen, die er seinem Opfer dann auch noch voller Häme vorzeigte. War er glänzender Laune, erzählte er gern aus seinen Kriegserlebnissen. Er muß sie wirklich erlebt haben, vor allem an der Somme in Frankreich, denn er konnte plastisch berichten über das Grausige des Stellungskrieges mit den vielen Toten, den vollgefressenen Ratten, die sich an den Leichen der Kriegstoten mästeten, während er und seine Kameraden noch angesichts dieser Erlebnisse ihre dürftigen Mahlzeiten einnehmen mußten. Der Studienrat für Geografie – das Fach hieß damals allerdings „Erdkunde“ – war im Ersten Weltkrieg ein Afrikakrieger bei General Lettow-Vorbeck und ungeheuer stolz darauf. Er war ein echter Rassist. „Neger“ taugten nur zum Arbeiten bei deutschen Farmern oder als „Askaris“ unter deutschem Kommando. Später war er anscheinend noch beim deutschen Expeditionskorps, das die „Weißen“ gegen die „Bolschewikis“ unterstützte. Von den Russen sagte er: „Kratze den Russen und du spürst den Tartaren.“
Für EA kommt es noch schlimmer. Er wird – inzwischen zwei Klassen über mir – von der Schule verwiesen, weil er zusammen mit Freunden, Klassenkameraden und einem Soldaten der Wehrmacht in einen Skandal mit „Weingeschäften“ verwickelt ist *), worin er aber nur eine unbedeutende Rolle spielt; doch bringt sie ihm auf Betreiben des Schulleiters der Hindenburgschule außer dem Rauswurf noch eine böse Bemerkung in seinem Abgangszeugnis ein, um deren Streichung sich unser Vater 1942 – als EA zum Leutnant befördert worden ist – bei diesem Schulleiter bemüht. Der lehnt aber die Streichung der Bemerkung in einer für unseren Vater sehr demütigenden Weise ab. Vater versucht es später bei dessen einstweiligem Vertreter, dem früheren Schulleiter der Oberrealschule bis 1934, Herrn Müller, nachdem der andere zur Wehrmacht einberufen worden ist. Herr Müller streicht „selbstverständlich“ die Bemerkung aus EAs Abgangszeugnis. Er war bis 1934 Leiter der Oberrealschule gewesen, aber ebenso wie der ehemalige Leiter des Reformrealgymnasiums vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden, weil er das „falsche“ Parteibuch besaß und deshalb dem neuen Platz machen musste, der sich noch rechtzeitig – 1932, kurz vor der „Machtübernahme“ der Nazis – das „richtige“ Parteibuch verschafft hatte.
*)EA und ein paar seiner Schulkameraden sind mit dem ältesten Sohn eines Weinkaufmanns befreundet. Dieser entdeckt einen auffälligen Fehlbestand in seinem Weinlager, verdächtigt einige seiner Angestellten, die aber jede Unterschleife abstreiten. Darum macht er Anzeige bei der Kriminalpolizei, deren Verdacht sich bald auf den ältesten Sohn richtet. Der gibt den Diebstahl zu und nennt dann auch die Mitbeteiligten, zu denen ein Angehöriger der Wehrmacht gehört, und auch EA, obwohl der nur unerheblich beteiligt ist. Als der Weinhändler erfährt, daß sein Sohn der Schuldige ist, versucht er, seine Anzeige zurückzuziehen, aber ohne Erfolg. Der Staatsanwalt hat bereits die Ermittlung übernommen und es folgt ein Verfahren vor dem Jugendgericht, zu dem EA allerdings wegen geringfügiger Beteiligung nicht vorgeladen wird. (Für den Wehrmachtsangehörigen kommt es jedoch schlimmer. Er wird von einem Wehrmachtgericht zu Gefängnis verurteilt.) Mit dem jüngsten Sohn des Weinhändlers, der in meinem Alter ist, freunde ich mich danach an, da ich in seine Klasse an der Comeniusschule komme. Er hat es wie ich geschafft, sich dem Dienst in der Hitlerjugend zu entziehen und ist ziemlich antiautoritär und leicht aufmüpfig eingestellt, was ich an ihm sehr bewundere. Zu Beginn des Krieges werden er und ich zur Teilnahme an vormilitärischen Übungen verpflichtet, die unter Leitung der Hitlerjugend steht. Irgendwie schaffen wir es beide, auch diesem Dienst fern zu bleiben.
Während einer der nächsten Unterrichtsstunden im Zeichensaal nach EAs Schulverweis von der Hindenburgschule ruft mich der Zeichenlehrer Naber zu sich in seinen Nebenraum und erzählt mir, daß er sich in der Konferenz, in der es auch um die vom damaligen Schulleiter geforderte Bestrafung meines Bruders ging, dagegen gestellt hätte, da er EAs Belastung in der Angelegenheit für so gering hält, daß sie nicht seine Zukunft beeinträchtigen dürfe. Aber er konnte sich gegen den Schulleiter nicht durchsetzen. Ich solle das meinen Eltern erzählen, damit sie dies wenigstens zur Kenntnis hätten. Ich berichte dies den Eltern beim Mittagessen und sie zeigen einen hohen Respekt vor diesem Lehrer, der in der Hierarchie des Lehrerkollegiums an unterster Stelle steht, da er nicht Studienrat, sondern nur den Grad eines Fachlehrers besitzt.
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