Beim Maschinenpersonal ist ein Reiniger, der von seinen Kollegen Tito genannt wird. Ich lerne ihn näher kennen, weil er aus der Marketenderware, die vom 1. Steward verwaltet wird, eine billige Kleinkamera erwirbt. Er bittet mich, seine Filme zu entwickeln, wenn er sie voll geknipst hat, was ich ihm verspreche. Ein paar Tage später, als ich zum Abendessen nach achtern gehe, wo mit den anderen Messen auch die Offiziersmesse untergebracht ist, sehe ich auf dem Gang unter mir „Tito“ in Diskussion mit einigen seiner Kollegen. Er hat den Film aus einer Patrone ausgezogen und seine Kollegen lachen und sagen ihm: „Jetzt hast du aber den ganzen Film kaputt gemacht.“ „Ihr habt doch keine Ahnung“, verteidigt sich „Tito“. Ich steige die Treppe hinunter zu der Gruppe und erkläre „Tito“, daß sein Film jetzt tatsächlich verdorben sei, weil er ihn ungeschützt dem Tageslicht ausgesetzt habe. Daß es überhaupt so weit kommen konnte, lag an den Frozzeleien von „Titos“ Kollegen, die ihm vorher weismachen wollten, daß sein Film ja sowieso nichts geworden sei und ihn damit zu der Fehlhandlung provozierten. Als er später zu mir kommt, erzähle ich ihm etwas über die Technik der Fotografie und er macht in der folgenden Zeit ein paar recht lebendige Fotos mit seiner billigen Kamera. Er ist stolz, als ich ihn um seine Erlaubnis bitte, mir auch Vergrößerungen von einigen seiner Fotos machen zu dürfen. „Tito“ hat jugoslawische Eltern, die sich nach dem Krieg zusammen mit ihm nach Westdeutschland abgesetzt haben. Daher sein Spitzname. Damit sind Seeleute – vor allem der unteren Chargen – schnell bei der Hand, wenn sich bei einem der Kollegen besondere Merkmale herausstellen.

Das Zeugnis als Abschiedsgeschenk für den Autor vom scheidenden 1. Offizier
Mein ältester Bruder, Ludwig, hat nach seinem Schulabschluß bei Onkel Didi die Lehre als Autoschlosser absolviert und auch den Führerschein gemacht. Noch als Lehrling wird er in der Linnemannschen Autovermietung eingesetzt, erhält aber keinen extra Lohn dafür. Nach der Lehre arbeitet er noch eine Zeitlang dort, fährt auch auf einer Rundreise eine etwas ältere Farmbesitzerin aus Südafrika und ihre Tochter mit dem Auto durch Deutschland, wobei die Tochter mehr Augen für Ludwig als für die Sehenswürdigkeiten übrig hat. Die Mutter scheint die Avancen der Tochter zu unterstützen. Aber es wird nichts daraus. Mein Bruder ist zu anspruchsvoll, die Tochter ihm wohl nicht hübsch genug.
Der Werkstatthof der Firma „Gebr. Linnemann, Kraftfahrzeuge“, ist gegenüber dem Werkstattgebäude von einem Drahtzaun begrenzt. Dahinter hat ein Glasermeister seine Werkstatt, der hin und wieder von den Onkeln Aufträge zur Neuverglasung eines KFZ erhält. Sicherheitsglas für Kraftfahrzeuge gibt es in den 20er Jahren anscheinend noch nicht oder ist noch nicht vorgeschrieben. Der Glasermeister und seine Frau haben zwei Töchter, die ältere ist im Haushalt, mit der jüngeren spiele ich manchmal. Sie ist etwas älter als ich. Ich habe sie als ziemlich großes, schlaksiges und recht lautes Mädchen in Erinnerung.
Der hintere Teil des Werkhofes Linnemanns ist auf beiden Seiten von Garagenbauten eingegrenzt. In dem unmittelbar an der Werkstatt befindlichen – einer alten Remise – stehen vor allem zwei firmeneigene Fahrzeuge für die Autovermietung und einige, zum Teil aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammende, die wohl schrottreif sind. Der gegenüber liegende Garagenbau aus Wellblech ist in Einzelplätze unterteilt und an Kunden vermietet. Ich schleiche mich manchmal verbotenerweise in die Remise und steige in eines der alten Autos, wo ich dann an den Armaturen herumhantiere. Gewöhnlich werden die alten Wagen mit einer Kurbel, die vorn unterhalb des mit reinem Leitungswasser gefüllten Motorkühlers auf das Ende der Motorwelle gesteckt oder geschraubt, durch Drehen der Kurbel angelassen. Hierzu muß schon einige Kraft aufgewendet werden. Es gibt Mitte der zwanziger Jahre aber auch schon Peronenkraftwagen mit Anlasser, die von einem großen Akkumulator gespeist werden. Ich bekomme einen gehörigen Schreck, als ich auf den Anlassknopf eines Hansa-Lloyd drücke und der Wagen daraufhin einen Satz nach vorn macht. Ich weiß natürlich noch nicht, daß der erste Gang eingelegt ist, um die Handbremse zu schonen.
Bei Linnemanns wird mein Interesse für Elektrotechnik geweckt, allerdings ohne daß sich die Onkel dabei engagieren, zunächst nur für Glühbirnen, Taschenlampen und Glühlampen für Autoscheinwerfer, sogenannte „Biluxlampen“, weil sie zwei Glühfäden für Scheinwerfer- und Abblendlicht besitzen. Bald gilt meine Aufmerksamkeit aber auch Scheibenwischermotoren und Winkerantrieben. Alles, was durch elektrischen Strom betrieben wird, ob als Licht, Bewegung oder Wärme, erregt mein Interesse. Ich weiß bald, daß zwischen elektrischem Strom und Magnetismus eine Beziehung besteht, erkenne den Mechanismus der elektrischen Klingel und etwas später auch den eines Elektromotors. Die physikalischen Grundlagen sind mir natürlich noch fremd.
Im kleinen Fahrerraum vor Onkel Didis Wohn- und Schlafzimmer liegt auf dem Tisch eine runde Stabtaschenlampe für die Fahrer im Nachtdienst. Eines Tages nehme ich die Lampe an mich, was ich damit anstellen will, weiß ich nicht. Jedenfalls wird abends nach Einbruch der Dämmerung – es ist Winter – die Lampe gesucht; der Verdacht fällt schnell auf mich und nach einigem Leugnen hole ich sie dann aus dem Versteck. Ich habe sie einfach unter die Fahrercouch geschoben in der unbegreiflichen Hoffnung, daß sie nicht weiter vermisst werden würde. Onkel August macht aus der Sache eine Affäre. Er zieht mir den Hosenboden stramm und gibt mir einige hinten drauf. Dann sagt er, er wolle mich jetzt nach Hause bringen und es den Eltern erzählen. Unterwegs auf der Cäcilienbrücke entlässt er mich jedoch und meint, er wolle meine Untat ein anderes Mal den Eltern erzählen. Ein paar Tage später kommt er mit seiner Frau, und ich habe natürlich große Angst, daß ich nun doch noch etwas abbekommen werde. Ich schleiche mich auf die Treppe gegenüber dem Kontor und höre nun, wie Onkel August tatsächlich meine Untat berichtet und Tante Carola ihren Kommentar dazu gibt. Seltsamerweise folgt darauf nichts. Die Eltern scheinen das ganze nicht wichtig zu nehmen.
Vater ist ohnehin kein großer Freund von Onkel August und sympathisiert mehr mit Onkel Didi. Beide sind Mitglieder im „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“, der national-konservativen, kaisertreuen und militanten Vereinigung ehemaliger Frontsoldaten des ersten Weltkrieges. Onkel August ist Mitglied in der Demokratischen Partei, vor allem wegen ihrer liberalen Wirtschaftspolitik, die sie während ihrer Mitbeteiligung an der Regierung in den zwanziger Jahren durchzusetzen versucht.
Eingeschult werde ich im April 1928 in der Schule an der Margarethenstraße, ein ziemlich neues Gebäude, in dem eine Mittel-(heute Real-)schule untergebracht ist und im obersten Stockwerk eine erste und zweite Grundschulklasse. Die zwei Jahre an dieser Schule sind mir nur schwach in Erinnerung. Vor Beginn des Unterrichts wird immer gebetet. Evangelischer Religionsunterricht ist Pflichtfach. Es wird nicht gefragt, ob die Eltern der Schüler vielleicht nur gottgläubig oder gar Atheisten sind. Während des Unterrichts müssen, wenn nicht geschrieben oder gezeichnet wird, die Hände gefaltet auf dem Schülerpult liegen. Zwei Episoden erinnere ich. Ich komme manchmal zu spät zum Unterricht, was ich dann meistens mit Nachsitzen zu büßen habe. In unserem Stockwerk befindet sich eine großräumige Garderobe für unsere Mäntel. Eines Morgens – wieder verspätet – hänge ich meinen Mantel auf einen Haken, als eine junge Lehrerin vorbei kommt, bei mir stehen bleibt, mich ansieht und fragt: „Nun, was macht man?“ Ich bleibe stumm. „Willst du nicht einen Diener machen?“ Einen „Diener“, d.h. vor „höher gestellten“ Personen einen Bückling zu machen, stammt noch aus alter Zeit und ist im Deutschland der von vielen Bürgern ungeliebten Republik noch durchaus üblich, uns Kindern sogar anerzogen worden. Vor Erwachsenen ist zur Begrüßung stets ein Diener zu machen, das „gehört sich einfach so“. Ich will vor dem Fräulein aber keinen Diener machen, obwohl sie es mir einige Male vormacht. Schließlich nimmt sie mich mit in unseren Klassenraum und berichtet unserem Lehrer, Herrn Purnhagen, von meinem „ungehörigen Benehmen“. Er zwingt mich, die Dienerprozedur vor dem Fräulein in Anwesenheit der ganzen Klasse vorzuführen, was mich sehr verletzt.
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