Worin genau seine überlegene Esstechnik besteht, wie er auf dieses immense Tempo kommt, das offenbar niemand inner- und außerhalb Ottensens mitzugehen in der Lage ist, wurde übrigens bis heute nicht richtig erforscht. Dabei ist der Ablauf praktisch immer gleich: Das Essen wird serviert (bis dahin hat der Franke meist schon den Inhalt zweier Brotkörbe intus, minus jener Bröckchen, die der Rest von uns ihm mühsam entwand), alle beginnen mit dem Verzehr, das Gespräch dreht sich um dies und das, der Franke macht hier eine Bemerkung und da eine (er klinkt sich also nicht aus, wie man vermuten könnte), und schwuppdiwupp legt er plötzlich das Besteck beiseite, während Frau Dagteller noch dabei ist, das zweite Salatblatt mit der Gabel anzuvisieren.
Man merkt einfach nicht, wie er das macht. Geräuschlos und ruhig saugt er in Sekunden zwei Nürnberger Rostbratwürste mit Salzkartoffeln und Sauerkraut weg. Und danach stiert er dir zufrieden grinsend auf den Teller und will dich nervös machen während der Viertelstunde, die du unweigerlich noch beschäftigt sein wirst mit deiner Portion.
Einmal aber geschah etwas, was bis heute schwer begreiflich ist:
Er verlor.
Ich erinnere mich noch daran, als wäre es gestern gewesen. Wenn man mich fragte, wo ich war, als Lady Di starb, würde ich sagen: in einem Flur in Wolfsburg. Und genauso deutlich weiß ich auch noch, wo ich war, als der Franke verlor: am gleichen Tisch wie er, in der Werkstatt 3 in Ottensen.
Aus irgendeinem Grund saß einer von uns plötzlich vor seinem blankgeputzten Teller, während der Franke gerade erst auf die Zielgerade einbog. Es war ein andächtiger Augenblick, der uns unwillkürlich gemeinsam innehalten ließ. Doch dieser Moment hatte auch etwas zutiefst Beunruhigendes. War der Franke krank? Ging es ihm nicht gut? War ein bislang inaktives Gen – vielleicht durch geheime militärische Experimente des Mossad in der Stratosphäre – zum Leben erwacht, welches ihm die Möglichkeit des Langsamessens, des Gönnenkönnens, des Nicht-gewinnen-Wollens bot?
Es war vollkommen rätselhaft. Nach diesem gleichsam metaphysischen Moment allgemeiner Würdigung und Kontemplation am Tisch war es der Franke selbst, der die heilige Stille brach. „Du bist vor mir fertig“, stellte er fest, und zwar mit jener wuchtigen Nüchternheit, mit der Mose dereinst das erste Gebot verlesen haben muss. Wir alle wussten sofort: Dies war ein historischer Moment. Und wir durften dabei sein. Das unfassliche Ereignis wurde sodann zum Gespräch des Tages, wie auch anders. Jetzt diskutierten alle durcheinander, fassungslos, aufgebracht und rotwangig vor Erregung.
Wie sich herauskristallisierte, war der Franke gottlob keineswegs krank, sondern hatte es lediglich beim Frühstück versäumt, die Kalorienzufuhr leidlich im Rahmen zu halten, was sein mittägliches Esstempo auf unerwartet enorme Weise abbremste. Und so konnte jemand aus der Bezirksklasse den Champ besiegen, ein einziges Mal.
Nach diesem Tag beschlossen wir, den Themenkomplex nicht mehr anzuschneiden. Kein Spott mehr, keine Süffisanzen. Wir hatten die Sonne gesehen, jetzt war es nicht mehr wie früher. Ein Mythos war zerstört.
Natürlich folgten Jahre, in denen er uns wieder unerbittlich in Grund und Boden aß. Doch jener Tag, als einer von uns vor ihm fertig war, wird für immer unvergessen bleiben. Wie der 4. Juli 1954 im Berner Wankdorfstadion.
Oder der, als die Dinosaurier ausstarben.
Die verspätete Riesenkartoffel
Einige Leser und Leserinnen haben bang angefragt, welche physische Form des Franken sie eigentlich imaginieren müssten. Meine sehr auf die orale Zuführung von Lebensmitteln verengte Frankensaga legt offenbar eine Gestalt nahe, die morgens von Spezialkränen aus einem stahlgerahmten Bett gehievt werden muss.
Doch dem ist nicht so. Im Gegenteil: Der Franke erfreut sich zum Unverständnis seiner Umwelt einer schlanken, geradezu am Rande der Hagerkeit angesiedelten Körperlichkeit. Im Strom der Passanten fiele er nicht weiter negativ auf, zumindest rein physisch nicht.
Außerdem ist er – entgegen dem Eindruck, der hier erweckt wird – nicht immer und ausschließlich mit der temporeichen Zuführung immenser Mengen Nahrung beschäftigt. Sonst wäre ihm wohl kaum ein kleiner Franke gelungen, dessen Existenz ich bezeugen kann. Es muss also zumindest Momente in seinem Leben gegeben haben, an denen er sich nicht nur essensbezogenen Dingen widmete. Das lag natürlich lange vor unserem ersten Treffen und ist deshalb eine reine Hypothese, die zudem auf schwachen Füßen steht.
Heute etwa begaben wir uns ins türkische Bistro Kumpir in der Bahrenfelder Straße, und während des Wartens auf die gleichnamige überbackene Riesenkartoffel war der Franke völlig unfähig, meinen interessanten Ausführungen zur gestrigen Kickkatastrophe zu lauschen, obwohl er am Ballsport gemeinhin sehr interessiert ist. Nein, heute hing sein Blick sehnsuchtsvoll am fatalerweise einsehbaren Küchentresen, wo eine Riesenkartoffel nach der anderen den letzten Schliff erhielt, danach aber zu allen möglichen Tischen getragen wurde, nur nicht zu unserem.
Ein ums andere Mal entrang sich darob ein tiefer Seufzer der zusehends in sich einsinkenden Gestalt des Franken, während meine düsteren WM-Prophezeihungen ihn ungefähr so sehr interessierten wie Herrn Ahmadinedschad die technische Weiterentwicklung der Steinschleuder.
Es war erschreckend, den von ungestillter Gier befeuerten Verfall des Würzburgers live am Tisch mitverfolgen zu müssen. Immer tiefer gruben sich Falten in seine eh schon von vielen Buffetschlachten gefurchte Stirn, immer rauhaardackeliger wurde sein Blick – der allerdings in Nullzeit sonnengleich aufstrahlte, als die Kartoffel endlich geliefert wurde.
Seine Teilnahmslosigkeit hielt allerdings an. War es eben noch die stumm machende Kraft des Hungers gewesen, so brachte ihn nun die bedingungslose Konzentration aufs möglichst effiziente Zusammenspiel von Messer, Gabel, Mund und Schlund zum Schweigen. Zu tiefschürfenden Erkenntnissen kam es daher heute Mittag nicht.
Aber wie schon Laotse sagte: Man kann nicht immer spitze sein.
Im Lauf der Jahre habe ich verschiedene Ansätze entwickelt, beim exorbitanten Esstempo des Franken mitzuhalten und wenigstens in Sichtweite des Unbesiegbaren die Ziellinie des Mittagsmahls zu überqueren. Alle scheiterten. Eine in letzter Zeit mehrfach getestete Methode ist eine schlichte: einfach früher bestellen.
Wenn ich als Erster der Bedienung meinen Essenswunsch zurufe, so das logische Kalkül, werde ich doch wohl auch früher beliefert. Und somit müsste meine Chance steigen, nicht fünfzehn Minuten länger als der Franke am Lunch zu mümmeln, sondern nur fünf.
Da wir oft in Stehimbissen unsere knapp bemessene Mittagszeit verbringen, bietet sich mir regelmäßig die Gelegenheit, den stets als Erster an der Theke auftauchenden Grobian entschlossen dort wegzurempeln, um dem Wirt aus der Tiefe des Raums rasch eine Nummer – etwa „43!“ – zuzurufen, noch ehe der verdatterte Franke weiß, wie ihm geschieht.
Ich gebe zu, die Methode wirkt auf den ersten Blick recht bieder. Sie erfordert aber ebenso körperliche Robustheit wie die Bereitschaft, besorgte Blicke von den anderen Gästen auszuhalten. Über beides verfüge ich inzwischen. Doch es ist wie verhext. Wenn ich gebackene Ente bestelle, nimmt der Franke im Anschluss Bratreis, und das geht nun mal schneller. Effekt: Er wird wieder mal früher beliefert, und ich mümmele nicht 15, sondern 20 Minuten länger am Lunch.
Mittlerweile fühlt sich dieser internatsgeschulte Volldampfesser derart sakrosankt, dass er mir in der Schlange sogar freiwillig den Platz vor ihm überlässt. Er weiß: Irgendetwas wird passieren – sei es ein Feuer in der Küche oder ein verlegter Zettel mit meiner Bestellung –, was ihn am Ende entgegen aller Wahrscheinlichkeit einen düpierend hohen Kantersieg einfahren lässt. Und so kommt es auch, immer. Hier spielt eben erste gegen dritte Liga.
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