Doch die Gunst des Königs schuf ihm auch mächtige Gegner, sodass er schließlich nach London fliehen musste. Saint Germain mied nun eine Weile Frankreich und hielt sich hauptsächlich in den Niederlanden und in Deutschland auf, wo er gerne den Decknamen Welldone benutzte. Später soll er sogar eine wichtige Rolle beim Putsch von Katharina II. 1762 in St. Petersburg gespielt haben.
‚Immer wieder Frauen‘, dachte Suzan. ‚Ob er wohl auch mit der Pompadour oder Katharina seine Spielchen getrieben hat? Vielleicht in dunklen Kutschen?‘
Doch dann schalt sie sich selbst. Nun ging sie doch tatsächlich dem Grafen Manderscheidt auf den Leim und nahm seine propagierte Legende als Tatsache.
‚Das Einzige, was die beiden Männer verbindet‘, sagte sie sich, ‚ist ihr Hang zum Geheimnisvollen und zur Hochstapelei. ‘
Und noch etwas hatten die historische Figur und der zeitgenössische Mann gemeinsam, sie konnten Frauen um den Finger wickeln.
„Saint Germain“, las sie weiter, „spielte in verschiedenen Freimaurerzirkeln eine bedeutende Rolle. 1778 gelang es Saint Germain in Hamburg, die Freundschaft des von Alchemie und Freimaurermythen begeisterten Karl von Hessen-Kassel, dem Statthalter des dänischen Königs in Schleswig, zu erringen. Auf seinem Sommerschloss richtete dieser dem Grafen ein Alchemistenlabor ein, und im nahen Eckernförde gründeten beide eine Seidenfärberei.
Zu seinen zahlreichen chemischen Entdeckungen zählte auch ein goldähnliches Metall. Er nannte es Similor, also similor – ähnlich Gold, auch als Carlsgold beziehungsweise Neu-Platinum bekannt.
„Wer war dieser seltsame Graf?“ las sie auf dem Bildschirm. „Eine Hypothese ist, dass er der Sohn der letzten spanischen Habsburgerkönigin Maria Anna von Pfalz-Neuburg (1667–1740) und eines jüdischen Bankiers in Madrid, Comte Adanero, war, den sie zu ihrem Finanzminister machte. Auch der Saint-Germain-Forscher Charconac plädiert für die Pfalz-Neuburg-Variante und gibt als Vater Jean Thomas Enriquez de Cabrera an, Herzog von Rioseco, elfter und letzter Amirante von Kastilien, mit umfangreichem Besitz in Sizilien.
Saint Germain war vielsprachig – er sprach perfekt italienisch, deutsch, spanisch, portugiesisch, französisch, englisch und las einige tote Sprachen.“
Dann kam ein äußerst interessanter Hinweis: Saint Germain soll einen prominenten Schüler gehabt haben, nämlich den Arzt Franz Anton Mesmer. Mesmer wiederum gilt als Entdecker der Hypnose und Begründer der hypnotischen Behandlung. War der historische Graf etwa in der Lage, psychische Kontrolle über andere Menschen auszuüben? Und hatte er diese Fähigkeit vielleicht an Graf Manderscheidt weitergegeben? Dies würde ihre Willenlosigkeit in seiner Gegenwart erklären. Dann war sie bei diesen sexuellen Eskapaden gar nicht bei Sinnen gewesen, sondern einem Psychoguru aufgesessen?
Sie las dann noch, dass die Zeitgenossen des historischen Grafen behaupteten, er wäre nicht gealtert. Viele Memoirenschreiber wollen ihn noch bis weit ins 19. Jahrhundert gesehen haben. Aber offiziell ist er laut Kirchenbucheintrag am 27. Februar 1784 in Eckernförde gestorben.
Sie klickte sich weiter durch verschiedene Internetseiten und stieß dann auf die Eintragung eines Horace Walpole, der 1745 über die Verhaftung eines Mannes namens Graf von Saint Germain berichtete:
„Er war in den letzten Jahren hier in England, will aber nicht sagen, wer er ist oder woher er kommt. Er gibt an, dass er nichts mit irgendeiner Frau zu tun hat, noch zu tun haben will. Er singt, spielt wundervoll Geige, komponiert, ist verrückt und nicht sehr vernünftig.“
Nun war die Ministerin völlig verwirrt. Sie hatte den Grafen wirklich anders erlebt. Wahrscheinlich waren dieser Saint Germain und der Manderscheidt doch nicht identisch. Und doch, musste sie vor sich zugeben, er hatte keinerlei Anstalten gemacht, selbst zu einer sexuellen Befriedigung zu kommen.
7
Der Graf empfing die Ministerin Bergstoh in seinem Labor. Sie hatte in Wikipedia gelesen, dass der Graf von Saint Germain bekannt für seine naturwissenschaftlichen Experimente gewesen war. Trieb es dieser seltsame Graf bei seiner Imitation des historischen Vorbilds so weit, dass er dessen Forschungen nachahmte?
Sie hatte ein eng anliegendes dunkelblaues Kostüm an, von dem sie wusste, dass es ihr besonders gutstand. Dazu trug sie eine antike Granatbrosche, die einst ihrer Mutter und davor deren Mutter gehört hatte. Die roten Steine bildeten zu dem Blau der Jacke einen faszinierenden Kontrast.
Der Graf hatte die Jacke seines dreiteiligen dunklen Anzugs ausgezogen und stattdessen eine große Lederschürze übergestreift. Die Ärmel seines blütenweisen Hemdes waren bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Er war gerade damit beschäftigt, aus einer Flasche mit der Aufschrift „Schwefelsäure“ ein Reagenzglas zu füllen. Er trug keine Handschuhe, sondern benutzte die blanken Finger. Etwas Unaufmerksamkeit, eine unachtsame Bewegung, ein kurzes Zittern und diese Hände, diese magischen Hände, wären verätzt.
Oder war dies etwa eine für sie inszenierte Show? War er rasch, nachdem er von ihrer Ankunft erfahren hatte, in dieses Labor geeilt und hantierte lediglich mit Wasser? War dieser Mann vielleicht der perfekte Selbstdarsteller?
Nachdem der Graf das Reagenzglas abgestellt hatte, trat er mit einem strahlenden Lächeln auf sie zu. Er breitete die Arme aus und rief: „Wie schön, nun sehen wir uns endlich auch einmal bei Tageslicht.“
Dabei sah Suzan Bergstoh eine Tätowierung auf seinem Unterarm. Eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt in der Form einer horizontalen Acht, also das Zeichen für Unendlichkeit. Diese Schlange hält ein Adler in den Klauen, der zu sieben Sternen fliegt. Es war ein seltsames Tattoo, aber Suzan dachte nicht weiter darüber nach, sondern wich seiner Umarmung aus und fragte: „Wer sind Sie?“
„Ein Mensch!“
„Und was wollen Sie von mir?“
„Dich!“
„Was heißt das?“
„Ich will dich ganz und gar.“
„Und ich werde nicht gefragt?“
„Du willst es doch auch.“
„Was?“
„Alles!“
„Nein! Bitte lassen Sie mich in Ruhe!“
„Ich kann dich doch nicht unglücklich lassen.“
„Ich bin nicht unglücklich. Ich möchte von Ihnen nicht mehr belästigt werden.“
Mit diesen Worten zog sie den Brillantring vom Finger und legte ihn auf den Tisch. Daneben legte sie die wertvolle Spange, mit der die Orchideen geschmückt gewesen waren, sie hatte sie aus dem Fundus holen lassen. Dann wandte sie sich wortlos zum Gehen.
Sie hörte ihn leise lachen und dann die Worte: „Mädchen, du weißt genau, dass du mir nicht entgehen kannst. Alles, was ich von dir will, willst du doch auch. Sei endlich einmal in deinem Leben ehrlich zu dir selbst!“
Suzan drehte sich um und sah ihm in die Augen.
„Ich sage Ihnen, was ich möchte. Ich möchte nicht von Ihnen vergewaltigt werden.“
„Ich vergewaltige dich nicht. Ich helfe dir lediglich das zu tun, was du in deinem Innersten willst. Ich befreie dein wahres Ich. Dafür solltest du mir danken.“
„Auf diese Hilfe kann ich verzichten. Ja, Sie haben mich schwach erlebt, und Sie haben diese Schwäche ausgenutzt. Doch nun bin ich wieder bei mir selbst. Ich weiß nicht, welche Tricks sie angewandt haben, um mich gefügig zu machen, aber damit ist nun Schluss! Noch einmal: lassen Sie mich in Zukunft in Ruhe!“
„Aber mein liebes Mädchen, es hat dir doch Spaß gemacht.“
„Ich bin nicht Ihr liebes Mädchen. Merken Sie sich das! Nein, es hat mir keinen Spaß gemacht. Es hat mich gedemütigt. Und ich weiß nicht, weshalb Ihnen meine Demütigung Genugtuung verschafft. Ich weiß nicht, welche perversen Absichten Sie noch hegen. Ich bin sicher auch nicht die einzige Frau, an der Sie Ihre Neigungen austoben. Aber mit mir nicht mehr!“
Читать дальше