Das war mehr als seltsam. Doch Bergstoh dachte nicht weiter darüber nach, sondern ließ um einen raschen Termin bei der Kanzlerin bitten. Es würde nur ein paar Minuten dauern.
Suzan wusste, wie sehr die Kruschka derartige Überfälle hasste, aber sie sah keine andere Möglichkeit, um ihre Ruhe wiederzufinden. Sie erhielt einen Termin um 11 Uhr 45 und beauftragte ihr Vorzimmer, alle Termine für diesen Tag abzusagen. Ihre Mitarbeiterinnen sahen sie erstaunt und verständnislos an. Die Chefsekretärin versuchte noch einige Einwendungen. Ob die Frau Minister nicht wenigstens an der Sitzung um 15 Uhr teilnehmen könne? Schließlich sei dieses Treffen wegen ihr bereits viermal verschoben worden. Doch Suzan schüttelte nur unwillig den Kopf.
Um halb zwölf ließ sie ihren Wagen vorfahren. Dann fuhr sie mit Blaulicht von der Alexanderstraße zum Bundeskanzleramt. Es dauerte zehn Minuten. Dort gab es die üblichen, wenn auch eingeschränkten Sicherheitskontrollen.
Das Kanzleramt in Berlin ist ein Haus voller zeitgenössischer Kunst. Der Chef des Kanzleramts hatte irgendwann für alle Minister und Staatssekretäre eine Führung gemacht und die Historie jedes einzelnen Kunstwerks beschrieben. In der Tat, das Haus hat eine Menge Überraschungen zu bieten. Aber darauf achtete Bergstoh heute nicht. Sie fuhr mit dem Fahrstuhl in den 7. Stock. Dort residierte die Kanzlerin auf Augenhöhe mit dem Plenum des Bundestages. Sie hatte sich bewusst einen Mann als Sekretär ins Vorzimmer gesetzt, der Suzan nun freundlich bat, noch etwas zu warten. Im Warteraum wurden ihr Kaffee und etwas Gebäck serviert.
Dort dachte Suzan darüber nach, was die Kruschka wohl mit dem Mann in ihrem Vorzimmer demonstrieren wollte. War es eine Geste an die feministische Bewegung in Deutschland? Sollte es ein Zeichen für die Gewerkschaften sein? Oder arbeitete Hannelore Kruschka einfach lieber mit Männern zusammen?
Suzan wusste, dass die Kanzlerin bei allen Entscheidungen einen Hintergedanken hatte. Sie tat nichts und ordnete nichts an, was nicht genau durchdacht war. Hannelore Kruschka legte großen Wert auf symbolische Akte.
Bergstoh wurde in ihren Gedanken unterbrochen und zur Kanzlerin gebeten. Die kam ihr schon an der Tür entgegen und gab ihr herzlich die Hand. Beide Frauen trugen dunkle Hosenanzüge und dezenten Schmuck. Aber zu ihrem Erschrecken sah Suzan, dass die Kanzlerin den gleichen Diamantring trug wie sie selbst. Möglichst unbemerkt drehte sie ihren Ring, sodass der Stein nun unter der Handfläche verborgen war und nur noch der schmale Goldreif nach oben zeigte. Es hätte sich nun auch um einen einfachen Ehering handeln können.
Ihr Blick wurde wie immer von dem Bild an der Wand hinter dem großen Schreibtisch angezogen. Es stellte den ersten Kanzler der Republik dar, Konrad Adenauer, gemalt von Oskar Kokoschka. Doch die Kanzlerin führte sie nicht zu ihrem Schreibtisch. Sie hatte sich angewöhnt, an einer Ecke des großen Besprechungstisches zu arbeiten. Von da sei der Weg zum Büro der Sekretärin am kürzesten, behauptete sie.
„Ich habe in der Presse von ihren erfolgreichen Verhandlungen mit RWE gelesen“, begann Hannelore Kruschka das Gespräch. „Mein Kompliment, das haben Sie wunderbar geregelt.“
Suzan bedankte sich und erläuterte, dass man in ihrem Ministerium gerade an einer Richtlinie zur CO 2-Reduzierung arbeite und eine entsprechende Vorlage in Bälde der Kanzlerin vorgelegt werden könne.
„Ein lobenswertes Unterfangen“, war die Antwort. Nach einer kleinen Pause kam die Frage: „Was führt Sie zu mir?“
Suzan Bergstoh beugte sich nervös vor und sagte: „Sie kennen doch den Grafen Manderscheidt? Ich muss unbedingt mit ihm Kontakt aufnehmen, weiß aber nicht, wie ich ihn erreichen kann. Er ist wie ein Gespenst. Er taucht einfach auf und verschwindet dann wieder im Nichts.“
Nun lachte die Kruschka herzlich: „Fürwahr eine treffende Beschreibung. Natürlich kann ich Ihnen die Adresse des Grafen geben. Ich werde im Vorzimmer Bescheid sagen. Geht es um eine wichtige Angelegenheit?“
„Wie man es nimmt“, antwortete Bergstoh ausweichend. „Ich glaube schon, dass es von Bedeutung ist. Wenn es Sie interessiert, werde ich Sie bei Gelegenheit unterrichten.“
„Darum bitte ich.“
Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte Suzan: „Wissen Sie eigentlich, wie alt der Graf ist?“
Die Kanzlerin sah sie erstaunt an, stand plötzlich auf und ging zum Fenster. Ihre Ministerin folgte ihr. Die beiden Frauen starrten eine Weile schweigend auf den Tiergarten und auf den Potsdamer Platz.
Endlich sagte die Kruschka: „Der Jüngste ist er sicherlich nicht mehr. Er selbst sagt von sich, er sei unendlich alt. Er nennt sich in persönlichen Gesprächen den Grafen von Saint Germain. Wissen Sie, auf wen er dabei anspielt?“
Suzan hatte den Namen schon gehört, wusste aber nicht genau, wer gemeint war. Irgendeine historische Persönlichkeit.
Die Kanzlerin sah ihre Unsicherheit und fuhr erklärend fort: „Der Graf von Saint Germain war eine schillernde Persönlichkeit. Er lebte im 18. Jahrhundert. In nüchternen Quellen wird er als Abenteurer, Geheimagent, Alchemist, Okkultist und Komponist bezeichnet. In anderen gilt er als Wanderer durch die Zeiten, der immer wieder als Reinkarnation auftaucht und die Geschicke dieser Welt mitbestimmen soll. Da werden Namen genannte wie Merlin, Bacon oder Paracelsus. Madame Blavatsky, Sie haben sicher schon von dieser Spiritistin gehört, sie hat die Theosophie begründet. Also, diese Madam Blavatsky hielt Saint Germain für einen der geheimen tibetischen Weisen. Das alles ist natürlich Unsinn, aber ich glaube unserem Grafen schmeicheln diese Legenden, und er spielt mit ihnen.“
Die Kanzlerin war ins Erzählen gekommen und rief sich nun wieder demonstrativ zur Ordnung.
„Ich bin doch eine Plaudertasche und lasse mich einfach gehen. Bitte entschuldigen Sie mich. Ich halte Sie auf und weiß doch, wie sehr Sie unter Zeitdruck stehen.“
Dieses Abschweifen und dann diese demonstrative Selbstkontrolle hatte Suzan bei der Kruschka schon häufiger beobachtet. War dies eine Inszenierung oder tatsächlich ein Charakterzug von ihr. Klar war nur, dass die Besucherin jetzt gehen sollte.
Die Kanzlerin begleitete ihre Ministerin zur Tür und gab im Vorzimmer Anweisung, die Adresse des Grafen herauszusuchen.
Bevor sie sich verabschiedete, sagte sie noch: „Bitte gehen Sie pfleglich mit dem Grafen um und behandeln Sie ihn mit äußerster Vorsicht. Er ist sehr einflussreich.“
Ernest Altmann, der engste Mitarbeiter der Kanzlerin, machte ihr einen Ausdruck aus einer Computerdatei, und dann hielt sie tatsächlich die Adresse des Grafen in den Händen. Adresse? Sechs Adressen! Eine davon im Villenvorort Falkensee-Finkenkrug in Berlin.
6
Wieder in ihrem Büro erklärte die Ministerin, sie wolle nicht gestört werden. Dann setzte sie sich an den Computer und rief Wikipedia auf. Tatsächlich fand sich dort ein Eintrag zum Grafen von Saint Germain.
Danach war ein Mann mit diesem Namen im 18. Jahrhundert durch Europa vagabundiert. Er hatte Zugang zu den höchsten Stellen, zu Fürsten und Königen gehabt. Er verfügte über große Geldmittel, war gebildet und ein exzellenter Musiker. Dieser Mann gab an, Zeuge wichtiger, weit zurückliegender historischer Ereignisse gewesen zu sein, die er in genauen Einzelheiten schilderte und dabei sehr gute historische Kenntnisse durchblicken ließ.
Die Pompadour machte ihn mit dem französischen König Ludwig XV. bekannt. Der richtete ihm im Trianon-Schlösschen in Versailles ein Alchemistenlabor ein. Außerdem stellte er dem Grafen von Saint Germain Räume im Loire-Schloss Chambord zur Verfügung, wo dieser unter anderem an neuen Methoden für die Textilfärberei experimentierte. Saint Germain behauptete, Fehler in Edelsteinen beseitigen und kleine Diamanten zu größeren verschmelzen zu können. Er lieferte dem König auch Proben ab, hütete sich aber, in diesem Fall Tricksereien anzuwenden. Anscheinend war Saint Germain auch in der Pharmazie bewandert und behauptete, ein Aqua benedetta zu besitzen, das bei Damen das Altern stoppen konnte. Dies trug sehr zur Beliebtheit des Grafen bei.
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