17
Mitten in der Nacht wachte sie auf. Das Doppelbett vibrierte leicht, und sie hörte ihren Mann leise stöhnen. Angewidert versuchte sie wieder einzuschlafen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Zu viele Probleme gingen ihr durch den Kopf. Nach einer Stunde, in der sie sich hin und her gewälzt hatte, wobei ihr Mann schon lange wieder schlief, fand sie die Lösung.
Sie würde ihre Mutter in Göttingen besuchen. In Göttingen wohnte auch dieser Schmidt. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich da nichts arrangieren ließe. Sicher, sobald sie eingetroffen war, stünden sie und das Elternhaus unter Kontrolle. Aber was wäre, wenn sich Josef Schmidt bereits zuvor bei ihrer Mutter einfände?
Schon sehr früh am nächsten Morgen war Graf Manderscheidt am Telefon. Er wollte mit ihr sprechen, bevor sie „auf Tour ging“, wie er ihre Reden und Eröffnungen nannte.
Als sie seine Stimme hörte, wusste sie nicht, ob er verärgert oder amüsiert war.
„Was hast du denn mit dem armen Bodelstein angestellt? Er ist ja ganz aus dem Häuschen.“
„Ich habe mit ihm lediglich zu Mittag gegessen und ihm das gewünschte Geld zugesagt.“
„Er hat das aber ganz anderes im Kopf. Besonders dein Hinweis auf die Evolutionstheorie, nach der ständig neue Arten entstehen und andere aussterben müssen, hat ihn beinahe um den Verstand gebracht. So etwas von der Ministerin für Umwelt und Naturschutz hören zu müssen, darauf war er nicht vorbereitet. Am liebsten wäre er aufgestanden, erzählt er nun überall, und hätte dieser Frau Minister seine Meinung gesagt. Aber er sei schließlich ein höflicher Mensch und die Frau Minister nur eine inkompetente Juristin. Suzan, du hast ja recht! Der Typ ist penetrant. Aber warum machst du dir das Leben so schwer? Der versteht doch gar nicht, was du zu ihm sagst. Der wiederholt doch den ganzen Tag nur die derzeit gängigen Phrasen. Also, wirf deine ironischen Bälle nicht vor die Säue und schaffe dir nicht so viele Feinde.“
Bevor er auflegte, sagte er noch: „Aber der Einfall mit der Evolutionstheorie und dem Artensterben hat mir gut gefallen. Das war pfiffig!“
18
Vierzehn Tage später war es dann so weit. Suzan Bergstoh fuhr zu ihrer Mutter nach Göttingen. Sie war in ausgezeichneter Laune und hatte das Gefühl, als würde sie zu einem Rendezvous fahren. Unablässig sang sie ohne Rücksicht auf ihren Fahrer das Lied:
Et puis notre bois de Vincennes,mais Dieu que les roses sont bellesà Göttingen, à Göttingen. Sie dachte an das alte Haus. Die Mutter hatte es geerbt und mit in die Ehe gebracht. Dort hatte sie ihre Kindheit verbracht.
‚Habe ich eigentlich eine glückliche Kindheit gehabt?‘ fragte sie sich plötzlich und war selbst erstaunt, dass sie sich eine so ketzerische Frage erlaubte.
Aber war ihre Kindheit wirklich glücklich gewesen? Suzan Bergstoh war auf Papua-Neuguinea geboren. Dort hatte sich ihr Vater, Samuel Rausch, um das Seelenheil der Eingeborenen als Missionar gekümmert, und ihre Mutter, eine approbierte Ärztin, hatte sich um die Gesundheit der Papuas gesorgt. Sie war das dritte Kind, das Mutter Adelheid dort geboren hatte.
Der Vater war ein harter Mann gewesen, am härtesten gegen sich selbst. Mörikes Spruch: „Herr, schicke, was du willst, ein Liebes oder Leides, ich bin vergnügt, dass beides aus deinen Händen quillt“, zitierte er morgens und abends.
Selbst als er seine beiden Kinder begraben musste, las er am Grab aus dem Buch Hiob: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, gepriesen sei der Name des Herrn.“
Doch dann entschloss sich der Vater ganz überraschend, seine Arbeit im Weinberg des Herrn ruhen zu lassen und mit dem dritten, noch lebenden Kind endlich nach Deutschland zurückzukehren.
Oh ja, der Vater war stets ängstlich darauf bedacht gewesen, bloß keine Schwäche zu zeigen, nur keine Angst zuzugeben. Die anderen Menschen hätten schließlich auf den Gedanken kommen können, dass er in seinem Gottvertrauen wankte und sich gegen Prüfungen, die ihm Gott auferlegt, zur Wehr setzte, anstatt sie gottesfürchtig hinzunehmen.
In seinen guten Momenten zitierte er deshalb Bonhoeffer:
„Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Die Mutter unterwarf sich zwar ihrem Mann und widersprach seinem strengen Glauben nicht. Aber ihr Glaube war anders, er war vertrauensvoll, stets auf der Suche nach Geborgenheit. Ihr Wahlspruch lautete: „Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von wo ein Lichtlein her.“
Sie lebte in der festen Gewissheit, dass sich stets alles zum Guten wendet. Dabei war sie eine lebenstüchtige gebildete Frau, die als Ärztin mit beiden Beinen fest auf der Erde stand. Nur in einem Punkt hatte sie sich ihrem Mann nicht unterworfen, beim Sex. Später erfuhr die Tochter von ihr, dass diese schmutzige Beschäftigung eingestellt worden war, nachdem sie das 40. Lebensjahr erreicht hatte. Nur ab und zu, wenn sie bei ihrem Mann etwas Besonderes hatte erreichen wollen, wurde eine Ausnahme gemacht. Dann hatte sie zuvor genau die Scheidentemperatur gemessen, und darauf geachtet, dass sie wirklich in den unfruchtbaren Tagen war.
Und sie selbst, die Tochter? Suzan war mit drei Jahren nach Deutschland gekommen und hier aufgewachsen. Eine Erinnerung an Neuguinea, wo sie geboren war, hatte sie nicht. Und mit dem Vater gab es, als sie in die Pubertät gekommen war, nur noch Streit. Sie wollte sich seinem starken Willen nicht beugen, und sie wollte auch nicht einen Willen Gottes anerkennen, den der Vater allein zu erkennen glaubte und scheinbar allwissend auslegte. Die ständigen Auseinandersetzungen hatten die Eltern zermürbt und deshalb sträubten sie sich nicht, als die Tochter auf eine Internatsschule gehen wollte. Allerdings musste es ein christliches, ein evangelikales Internat sein.
Der Vater starb dann an Magenkrebs, und sie selbst trat aus der Kirche aus, nachdem sie volljährig geworden war. Aber sie hatte beinahe ein Jahr gewartet, bevor sie es der Mutter gestand. Wider Erwarten war die ganz ruhig geblieben. Sie hatte nur gesagt: „Wie gut, dass es Vater nicht mehr erlebt hat.“
Dann kam die Ministerin in Göttingen an. Die Mutter wartete schon draußen am Gartentor. Sie umarmten sich herzlich. Während sich die Sicherheitsleute im Garten verteilten, schlenderte Suzan mit ihrer Mutter in das alte Haus. Bei jedem Besuch hatte sie anfangs das Gefühl, wieder ein kleines Mädchen zu sein. Hier war die Welt in Ordnung, und sie brauchte sich keine Sorgen zu machen. Natürlich war dies eine Illusion, das wusste sie genau.
‚Aber die Sehnsucht und der Wunsch sind doch legitim‘, dachte sie.
Die alte Villa lud aber auch zum Träumen ein. Sie war von außen mit Efeu bewachsen und sah wie ein verwunschenes Schloss aus. Der Garten war verwildert. Da standen hohe Fichten, einst süße kleine Christbäume, die man rechtzeitig zu fällen vergessen hatte. Nun waren es riesige Bäume, aus deren Schatten das Haus zu keiner Tageszeit entkommen konnte. So altertümlich wie außen war auch das Innere. Die sanitären Anlagen ließen zu wünschen übrig, die Fenster waren undicht.
‚Das alles gehört dringend renoviert‘, sagte sich Suzan, als sie die knarrenden Holzstufen hinaufstieg.
Sie dachte daran, wie sie als Kind die Stufen emporgesprungen war, und öffnete ganz in Gedanken die Tür zum großen Wohnzimmer im Obergeschoss mit dem runden Erker. Sie war so in ihre Erinnerungen versunken, dass sie ein wenig erschrak, als sie im Wohnzimmer den Gast erblickte, der auf sie gewartet hatte. Professor Doktor Josef Schmidt legte die Fachzeitschrift, in der er gelesen hatte, beiseite und erhob sich sogleich.
Suzan musterte seine gedrungene Gestalt, das bleiche Gesicht mit den tief liegenden Augen. Wie so oft, wenn sie einen Mann kennenlernte, stellte sie sich die Frage, ob er wohl für Sex in Betracht käme, und entschied sogleich ‚nein‘.
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