Sie hatte, dem Wunsch des Grafen entsprechend, Anweisung gegeben, die so adressierte Post ihr ungeöffnet auf den Schreibtisch zu legen. Aber natürlich wurde dennoch jeder Brief auf Sprengstoff untersucht und deshalb öffnete sie das Kuvert ohne Angst.
Das Blatt, das sie nun in Händen hielt, hatte zwar nichts mit dem Grafen zu tun, aber als sie die Unterschrift gelesen hatte, ließ sie es fallen als handelte es sich um eine Bombe. Es war ein handgeschriebener Brief von Professor Josef Schmidt.
„Liebe, gnädige Frau Minister,
dies ist mein letzter Versuch, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Zwar wäre ein Telefongespräch viel einfacher, aber entweder wimmelt mich Ihre Sekretärin ab, oder sie stellt mich zu einem Ihrer Referenten durch, der mich dann ins Leere laufen lässt. Vielleicht bekommen Sie diesen Brief tatsächlich persönlich in die Hände. Es ist meine letzte Hoffnung.
Gern erinnere ich mich an unser kurzes Gespräch anlässlich des Symposiums. Wir waren zwar nicht einer Meinung, aber ich habe sie als offene und informierte Persönlichkeit kennengelernt. Deshalb wage ich es nun, sie um Verständnis und Hilfe zu bitten. Ich gehe ganz einfach davon aus, dass Sie die Ministerin aller Bürger sind und nicht nur die Vertreterin einer mächtigen CO 2 -Lobby.“
An dieser Stelle legte sie den Brief aus der Hand. Es war einfach unverschämt, was sich dieser Schmidt herausnahm. Er stellte doch tatsächlich ihre Integrität infrage. Sie wollte den Brief bereits in den Papierkorb werfen, als ihr klar wurde, dass sie selbst nicht mehr an die eigene Integrität glaubte. Also faltete sie ihn wieder auseinander und las weiter:
„Wie Sie wissen, hinterfrage ich die These von einem von Menschen verursachten Klimawandel durch ungehemmten CO 2 -Ausstoß. Das Ganze ist mir zu dogmatisch, thesenhaft und wissenschaftlich ganz und gar nicht bewiesen. Aber mit diesem Dogma lässt sich eben eine Menge Geld verdienen. Geld, das an anderer Stelle, wo es erheblich dringender gebraucht würde, fehlt. Natürlich trete ich für Umweltschutz ein, natürlich kämpfe ich dafür, dass weltweit die Emissionen von giftigen Gasen und Schmutzpartikeln ausgefiltert werden, dass man die Unternehmen kontrolliert und an die Leine legt. Ich bin also ganz und gar kein Vertreter eines Raubtierkapitalismus, der im Interesse eines ungehemmten Wirtschaftswachstums die Gesundheit der Bevölkerung schädigen und die Natur vernichten darf.
Aber der CO 2 -Lobby geht es gar nicht um die Natur, sonst hätte sie nicht absurde Verbote und Maßnahmen durchgesetzt, wie den umweltfeindlichen Biodiesel, für den die Menschen in der dritten Welt hungern müssen. Aber das, was als Rettung für den Erdball verkauft wird, ist eben ein gigantisches Geschäft.
Ich will Sie nicht langweilen und endlich zum Anliegen dieses Briefes kommen.
Ich bin schon lange erheblichen Sanktionen ausgesetzt, die ich bereit war, hinzunehmen. Als Folge davon ist meine Ehe kaputtgegangen, und ich wurde wirtschaftlich ruiniert. Immerhin konnte ich aber bisher meine Professur behalten. Doch nun soll ich auch sie verlieren und sehe mich einem Strafprozess ausgesetzt, der mich vernichten wird.
In dieser Not wende ich mich an Sie mit der Bitte, um ein kurzes Telefongespräch unter der Nummer 0551 686754. Sie sind, verehrte Frau Minister, meine letzte Hoffnung.
Ihr sehr ergebener Josef Schmidt.“
Suzan Bergstoh konnte sich nur zu gut in den Mann hineinversetzen. Schließlich war sie selbst vor nicht allzu langer Zeit in einer ähnlichen Situation gewesen. Aber was konnte sie tun? Sie war doch genauso hilflos und ausgeliefert wie er selbst. Schon allein ein Telefonat mit ihm war für sie brandgefährlich. Sie steckte den Brief samt Umschlag in ihre Handtasche und beschloss, später noch einmal über ihre mögliche Reaktion nachzudenken.
An diesem Tag hatte die Ministerin ein Mittagessen mit einem wichtigen Vertreter des SBfU, des Schutzbundes für Umwelt. Sie hatte den Mann der Einfachheit halber in das Casino im Jakob-Kaiser-Haus, also in die Kantine des Bundestages, eingeladen.
Das Casino sah zwar elegant aus, aber die Architekten hatten wie so oft nur an das Design, nicht aber an die Funktionalität der Räume gedacht. Durch die vielen Stein- und Glasflächen war es im Casino zu Stoßzeiten unerträglich laut, sodass eine Unterhaltung nur schreiend stattfinden konnte. Auch die Namen der Menüs versprachen mehr, als die Speisen dann zu halten vermochten.
Dennoch kam die Ministerin gern mit Besuchern hierher, denen sie ein einfaches Essen schuldete. Man wurde dort rasch bedient, und es war so billig, dass ihr Bewirtungsetat kaum belastet wurde. Innerhalb einer Stunde waren die Treffen in der Regel abgewickelt, und sie konnte an ihren Schreibtisch zurückkehren. Auch war das Casino sicher. So hatten ihre Bodyguards über Mittag frei.
Ihr Besucher hatte sich für „Wildschweinragout mit Birne Helene und Preiselbeeren“ entschieden. Aber danach zu schließen, wie lange er auf einem Bissen herumkaute, schien das Wildschwein schon hoch in den Jahren gewesen zu sein. Sie selbst aß ein trockenes, strohiges „Norwegisches Steinbeißer Filet“.
Der Gast, Doktor Waldemar Bodelstein, leitete das Gespräch mit sorgenvollem Gesicht: „Da sitzen wir nun gemütlich zusammen und in der Zwischenzeit sterben wieder mindestens zwanzig Tier- und Pflanzenarten aus.“
Doktor Bergstoh, ein wenig ungehalten wegen des schlechten Essens, sah ihren Gegenüber daraufhin mit großen Augen an. Er hatte die Fünfzig bereits weit überschritten und trug das lange Haar hinten zu einem Zopf zusammengebunden. Seine häufigen Aufenthalte in der Natur hatten sein Gesicht, aus dem stechende blaue Augen starrten, tief gebräunt.
„Woher wissen Sie das?“ fragte sie unwirsch.
„Aber darüber gibt es doch keine Diskussion“, antwortete er verwundert. „Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass täglich bis zu 130 Arten aussterben. Mehr als 16.300 Tier- und Pflanzenarten sind offiziell vom Aussterben bedroht, und die Artenvielfalt schwindet immer schneller.“
Er erklärte dies in einem vorwurfsvollen Ton. Schließlich saß er mit der Ministerin für Umweltschutz an einem Tisch, und die sollte dies alles schließlich wissen.
Seine Selbstgewissheit, die frei von jeglichen Zweifeln war, ärgerte sie. Deshalb antwortete sie spitz: „Könnten Sie mir bitte eine Liste mit den Arten zukommen lassen, die in diesem Jahr bereits ausgestorben sind?“
Doktor Bodelstein blickte immer verwunderter. Ein wenig verunsichert sagte er: „Woher soll ich wissen, welche Arten gerade im brasilianischen Urwald untergehen.“
„Und woher wissen Sie dann die genaue Zahl?“
„Diese Angaben sind natürlich nur Schätzungen. Man hat in einem kleinen Gebiet gezählt und dann extrapoliert.“
Mit eisigem Ton stellte die Ministerin fest: „Ihre Angaben über das Artensterben sind also nur Vermutungen?“
Völlig irritiert und mühsam seinen Zorn beherrschend sagte der Doktor: „Sie wollen doch nicht ernsthaft in Zweifel ziehen, dass der Mauigimpel auf Hawaii und der Jangtse-Delphin auf das Äußerste bedroht sind? Auch der Gorilla wurde inzwischen in die höchste Gefährdungsklasse eingestuft. Der Orang-Utan in Sumatra gilt als äußerst gefährdet. Und die Population des Ganges-Gavial, einem Krokodil, das in Indien und Nepal lebt, hat sich in den vergangenen zehn Jahren auf 182 Tiere mehr als halbiert.“
„Aber das bezweifle ich doch gar nicht“, beruhigte ihn Bergstoh. „Einzelne Arten sind sicher vom Aussterben bedroht, und wir tun gut daran, Wege zu ihrer Rettung einzuleiten. Aber Sie sprachen von 130 Arten täglich. Sie müssen für mich Verständnis haben. Ich bin Juristin und keine Biologin. Deshalb lege ich Aussagen auf die Goldwaage und bin auf den Rat von Fachleuten wie Ihnen angewiesen.“
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