Yan zuckte kurz mit den Schultern: "Okay."
War ihm das wirklich egal, oder war das nur die Schlussfolgerung, weil er mich freigegeben hatte, wie er zu Ralf sagte? Ich wollte es nicht mehr wissen, denn es verletzte mich sehr.
Ich stellte mich fröhlich und voller Tatendrang: "He, Jungs, soll ich uns heute Abend etwas echt Italienisches kochen?"
Es gab Spaghetti Carbonara, italienischen Salat und Sangria. Da die Luft wunderbar lau war, deckten wir den Tisch draußen und aßen im nachlassenden Sonnenschein. Die Tage waren in diesem Sommer so lang, dass ich dachte, die Sonne wollte nicht mehr untergehen. Bei einem weiteren Glas Sangria und einer Zigarette sah ich den beiden Männern zu, wie sie den Tisch abräumten und die Küche in Ordnung brachten. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, schloss die Augen und genoss die warmen Strahlen der Sonne in meinem Gesicht. Bald darauf verließ uns Yan und Ralf ging kurz mit ihm zur Tür. Ich rückte eine Liege an den Rand des Pools, legte mich darauf und starrte fasziniert in das Wasser, auf dessen Oberfläche sich die Sonnenstrahlen brachen und wie Diamanten in allen Regenbogenfarben facettenreich schimmerten und gleißten. Ich dachte in diesem Moment an nichts mehr, mein Geist fühlte sich erlösend frei an, und ich versank in dem Moment.
10. Erster bewusster Kontakt
Das Unglaubliche geschah: Ich hatte zu lange in die Reflexionen des Wassers geschaut und musste darüber eingeschlafen sein, oder vertiefte mich zu sehr in einen Tagtraum, plötzlich befand ich mich nicht mehr an Ralfs Pool, sondern...
Das war das Merkwürdigste daran, denn ich wusste nicht mehr WO ich mich befand! Ich kannte diesen Ort nicht, war noch nie in meinem Leben hier gewesen!
Ich blickte mich vorsichtig um und spürte eine Angst in mir aufsteigen, wie ich sie noch nie gespürt hatte. Es musste eine Angst sein, die man verspürt, wenn man weiß, dass man zum Tode verurteilt ist! Ich spürte eine ebensolche Angst, aber ich fühlte mich nicht durch ein Gericht zum Tode verurteilt, sondern durch die Existenz eines Wesens, dem ich nicht entkommen konnte und das nur von einem einzigen Gedanken beherrscht wurde: Töten!
Ich bewegte mich vorsichtig nach rechts, öffnete eine alte Holztür, hinter der ich junge Frauen lachen hörte. Als ich in den dahinter liegenden Raum blicken konnte, wurde ich von drei jungen Frauen, alle in meinem Alter, begrüßt. Sie räkelten sich auf einem Himmelbett, das unheimlich weich und warm aussah und zum Kuscheln einlud, auch bedingt durch die hellrosa Bettbezüge der Decken und Kopfkissen. Die Frauen waren ausnahmslos in Rosa gekleidet. Sie trugen rosafarbene Morgenmäntel, die mehr zeigten als verbargen, weil sie aus rosa Gaze bestanden und die kurzen Ärmel, sowie Saum und Kragen waren von flauschig aussehendem, weißen Pelz besetzt.
Sie zogen mich auf das Bett und fingen an mich zu entkleiden. Ich hüllte mich in den von ihnen angebotenen Morgenmantel, der genauso aussah wie die, die sie trugen. Ich kuschelte mich mit den Frauen zusammen in die Decken des Bettes und fühlte, dass sie genauso weich waren, wie ich es vermutet hatte, als ich noch an der Tür gestanden war. Ich kannte die Frauen nicht, fühlte mich in ihrer Nähe aber wohl und hätte fast die drohende Gefahr vergessen, in der ich mich befand.
Dann hörte ich die entsetzlichen Schreie, Schreie voll Schmerz und Qual, die aus dem Zimmer nebenan zu kommen schienen. Ich sagte verzweifelt zu den Frauen, dass sie sich verstecken sollen, aber sie bewegten sich nicht, auch, als ich sie mehrmals dazu aufforderte. Ich vermutete, dass sie das Ungeheuer kannten und wussten, dass eine Flucht ihren Tod nicht verhindern, sondern die Qualen vor dem Tod nur in die Länge ziehen würde.
Ich wollte mich nicht mit meinem Schicksal abfinden!
Ich stand schnell auf, fühlte, wie sich alles in mir anspannte, weil ich nicht in den Gang zurück gehen wollte, doch ich musste - sonst hätte ich keine Chance mehr. Jeder Nerv in mir war angespannt. Ich öffnete die Tür und lugte vorsichtig nach draußen, wollte die Tür nicht ganz öffnen, weil ich nicht wusste, was sich dahinter verbarg. Mein Herz hörte auf zu schlagen, weil ich vermutete, dass ich direkt in die Augen des Ungeheuers blicken würde, wenn ich den Kopf weiter herausstrecken würde, wie in einem schlechten Horrorfilm. Ich biss mir auf die Innenseiten der Wangen, schmeckte mein Blut silbrig auf der Zunge - ich wollte nicht schreien, wenn ich das Ungeheuer sehen würde, ich wollte ganz tapfer sein, aber in der Erwartung des Schrecklichen, in der ungeheuren Anspannung, in der ich mich befand, gelang mir dies nur knapp. Das krampfhafte Anspannen jedes Muskels und das Adrenalin, das meinen Körper aufpeitschte, äußerte sich in peitschenden Schmerzen in meinem Körper, sodass ich die Resignation der Frauen hinter mir in dem Zimmer verstehen konnte. Ich wollte aufgeben, mich auch der Resignation ergeben, anstatt weiter diese Angst und Schmerzen in mir zu spüren, doch mein Überlebenswille war zu stark.
Ich öffnete die Tür weiter und weiter und der Gang war...leer.
Er war leer! Ich hatte noch eine Chance!
Ich hörte wieder die Schreie ganz in meiner Nähe und begann loszulaufen, denn ich musste schnell sein, wenn ich dem Ungeheuer nicht in die Arme laufen wollte.
Nur wohin?
Das Ungeheuer war noch beschäftigt, mit welch armer Kreatur auch immer, und ich wandte mich nach rechts, weg von den Schreien. Dort erschien eine andere Tür, hinter der ich keine Schreie, hinter der ich gar keine Geräusche hörte.
War das eine Falle? Ich musste das Risiko eingehen.
Ich öffnete die Tür, blickte hinein und sah viele Menschen, die sich unter Tischen, Stühlen, Regalen, auf und sicherlich auch in den dort stehenden Schränken verkrochen hatten. Ich blickte mich kurz um und bedauerte die Menschen, die sich dort aufhielten, denn sie hatten sich keine lohnenden Verstecke ausgesucht, zumal sich auf den Tischen noch nicht einmal Tischdecken befanden, die über die Kante hinaus den Raum unter dem Tisch verdeckten. Das Ungeheuer würde sie sofort sehen. Wenn ich mich verstecken wollte, musste ich mir einen anderen Platz suchen.
Aber wo?
Dann sah ich sie: Die Großmutter, wie sie in allen Träumen einer Enkeltochter vorkommen musste. Uralt, klein, rund, runzelige Haut im Gesicht, weißes, geflochtenes Haar, das in einem Kranz um ihr Haupt gewunden war. Sie thronte in einem Schaukelstuhl, versuchte sich nicht zu verstecken, und hielt eine Schüssel mit gekochten und geschälten Kartoffeln seelenruhig in der Hand. Ich schlafwandelte auf sie zu und sie fixierte mich neugierig mit wässrig blauen Augen. Plötzlich brach ein gewaltiger Lärm vor der Tür los und ich wusste, dass ich es nicht mehr rechtzeitig aus dem Raum schaffen würde, denn das Ungeheuer kam hierher.
Die Großmutter winkte mich zu sich heran: "Du scheinst Mut zu haben. Iss eine Kartoffel und wenn das Ungeheuer kommt, dann biete ihm auch eine an. Es wird dich zunächst übersehen, dann kannst du flüchten."
Seltsame Worte, die keinen Sinn ergaben. Warum bot sie niemandem hier in diesem Raum ihre Hilfe an, warum versuchte sie nicht selbst damit dem Ungeheuer zu entkommen? Ich wusste die Antwort. Alle waren in tiefste Resignation, wie die drei Frauen zuvor, verfallen. Sie würden weder den Mut, noch die Kraft für eine mögliche Flucht aufbringen. Sie waren verloren.
Ich konnte nicht weiter überlegen, denn die Tür sprang mit einem Knall auf und das Ungeheuer stand vor mir.
Ich blickte zu Boden, wollte das Ungeheuer nicht anstarren, damit es nicht auf mich aufmerksam wurde. Dennoch konnte ich meine Neugier nicht zügeln. Unter meinen Wimpern blickte ich hervor und vor mir offenbarte sich etwas, was ich gar nicht erwartet hatte: Ich erkannte einen großen, dunklen Schatten, durch den ich wie durch Nebel hindurch schauen konnte. Der Schatten flimmerte wie die Luft an einem heißen Sommertag, aber ich fühlte, dass das Ungeheuer real war, ich konnte seine Ausstrahlung körperlich spüren, ebenso die Hitze, die es verbreitete. Der Boden wankte, wenn es einen Schritt vor den anderen setzte, es musste sehr schwer sein. Ich hob meinen Blick noch etwas weiter und bemerkte, dass es mich mit seinen glühenden Augen zu mustern begann.
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