Gemeinsam gingen sie den Weg zum Haus hinauf, einer imposanten Gründerzeit-Villa mit zahlreichen Erkerchen und Türmchen, umgeben von einem charmant-wilden Garten. Katharina kannte die Villa von außen. Als Kind war sie häufig mit dem Fahrrad an dem Grundstück vorbeigefahren und hatte sich Geschichten über die Bewohner ausgedacht: Vielleicht wohnte dort ein verrückter Wissenschaftler. Oder ein weltenrettender Philanthrop: Das Wort hatte sie von ihrer Mutter gelernt und der Klang hatte ihr gefallen. In einer Phase, in der sie vor allem Comics gelesen hatte, hatte sie darüber spekuliert, ob dort ein geheimnisvoller Millionär wohnte, der nachts heimlich durch Frankfurt zog und Verbrechen bekämpfte.
Katharina bemerkte, dass der Weg, über den sie gingen, mal breiter gewesen sein musste. Doch ein Großteil des Kopfsteinpflasters war jetzt von Gras überwuchert. Vermutlich konnte man früher einmal vom Tor bis zum Eingang der Villa vorfahren. Doch dieser Weg war jetzt von der Garage versperrt.
Professor Leydth hatte Katharinas Blick bemerkt: »Es scheint mir angemessener, das Haus zu Fuß zu erreichen. Sie wissen gar nicht, wie so ein kleiner Spaziergang das Gemüt beruhigt. Gerade bei etwas nervösen Patienten.«
»Paul war Psychiater und Neurologe«, erklärte Andreas Amendt. »Er hatte seine Praxis hier im Haus.«
»In der Villa meiner Ahnen. Etwas eigenwilliger Baustil, aber ich habe sie liebgewonnen.«
»Dann sind Sie …?«
»Der Letzte der Leydths, ja.«
Die Leydths, das wusste Katharina, waren eine der großen Industriellenfamilien Hessens gewesen. Halb Frankfurt, so sagte man, habe den Leydths gehört.
»Und dieses Haus ist alles, was davon übrig ist.« Der Professor musste Katharinas Gedanken erneut erraten zu haben. »Das Haus und ziemlich viel Anlagevermögen. – Zum Leidwesen meiner Eltern konnte ich mich nicht entschließen, das Geschäft fortzuführen. Stattdessen habe ich mich der Medizin gewidmet. So steht es zumindest im Who’s who.«
***
Katharina hatte eine verkramte Villa erwartet, vollgestopft mit Erinnerungsstücken an längst vergangene Zeiten. Doch das Haus war luftig und elegant eingerichtet. Ausgesuchte Antiquitäten standen geschmackvoll eingepasst zwischen modernerem Mobiliar.
Auf dem Weg, der sie in einen anderen Gebäudeteil führte, kamen sie durch eine kleine Halle mit großen Oberlichtern. Paul Leydth hielt an. »Das hier ist unsere Ahnengalerie. Zumindest war sie das, bevor ich all die alten Schinken eingemottet habe. In zweihundert Jahren kommen eine ganze Menge Köpfe zusammen.«
Er führte sie vor ein großes Gemälde, das zentral an einer Wand hing. Laura kicherte. »Das sieht aus wie diese Bilder, wo man ganz viel suchen muss.«
»Genau das war auch die Absicht. Ich habe einen befreundeten Künstler gebeten, alle meine Ahnen auf einem Bild zu vereinen. Das spart Platz, und trotzdem erfüllt es die testamentarische Auflage, in diesem Raum unseren Vorfahren qua Abbildung Respekt zu zollen.«
Während Paul Leydth Laura seine Ahnen zeigte, hatte ein anderes Bild Katharina magisch angezogen. Es war nicht besonders groß und zeigte einen springenden, blauen Delfin. Das war … Das konnte nicht sein. Oder doch?
Paul Leydth hatte mit der kleinen Erläuterung seiner Ahnenreihe aufgehört und war neben sie getreten.
»Eine Zeichnung aus –«
»The Legend of the Dolphin«, unterbrach ihn Katharina.
»Sie haben davon gehört?«
»Natürlich.« The Legend of the Dolphin hätte der erste farbige, abendfüllende Zeichentrickfilm werden sollen. Die Bewegungen des Delfins wurden angeblich Bild für Bild von Originalaufnahmen abgezeichnet. Doch das kleine Studio brannte vor der Fertigstellung ab, die Arbeit war verloren. »Wie haben Sie das Bild gefunden?«
»Ach, das war ein Glücksfall. Ein Kunstimporteur kam eines Tages damit zu mir. Drei Blätter dieser Art waren bei einer Lieferung dabei, die er aus den USA für einen Kunden importiert hatte. Doch der Kunde wollte sie nicht. Sie mussten zufällig in die Lieferung geraten sein. Die Verkäufer in den USA wollten sie auch nicht. Ich habe die Blätter prüfen lassen. Eindeutig Zeichnungen von Ub Ibram.«
Ub Ibram, der Chefzeichner von The Legend of the Dolphin, war bei dem Brand umgekommen.
»Zwei der Blätter wollte der Händler für seine delfinverrückten Töchter behalten. Das dritte habe ich ihm abgekauft.«
Katharina durchfuhr es eiskalt: »Der Kunsthändler hieß Diether Klein?«
Paul Leydth nickte. Die Frage überraschte ihn offenbar nur mäßig . »Sie sind seine Tochter, nicht wahr?«
»Woher …?«
»Ach, eine Halbkoreanerin mit dem Namen Klein? – Irgendjemand hat mir erzählt, dass Sie Polizistin geworden sind«, antwortete der Professor rasch.
Katharina wandte sich wieder dem Bild zu. »Ich hab was ganz Tolles für deine Delfin-Sammlung«, hatte ihr Vater gesagt. In ihrem letzten Telefonat.
»Der ist aber schön.« Laura, die sich auf ihren eigenen kleinen Rundgang durch die Galerie gemacht hatte, war zu ihnen gestoßen.
»Ja, nicht wahr? Magst du auch Delfine?«, fragte der Professor freundlich.
»Ja, aber Giraffen habe ich noch lieber. – Katharina sammelt Delfine.«
»So, so. Und Zeichentrickfilme mag sie auch?«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich Zeichentrickfilme mag?«
»Nur wirkliche Fans kennen The Legend of the Dolphin.«
Katharinas Wangen begannen zu glühen. Ertappt bei ihrer kindlichen Vorliebe.
»Bevor du jetzt aber in dein Kino bittest zur Vorführung deiner eigenen Sammlung, lasst uns Kaffee trinken«, ermahnte Angelica Leydth ihren Mann streng.
»Sie sammeln Trickfilme?«, fragte Katharina.
Paul Leydth antwortete mit verlegenem Stolz: »Oh ja! Meine Frau tadelt mich zwar stets für diese Leidenschaft, aber ich habe Originalkopien aller wichtigen abendfüllenden Zeichentrickfilme. Dafür habe ich einen der zahlreichen großen und überflüssigen Räume im Haupthaus zum Kino umbauen lassen. Bei Gelegenheit …«
»Gern«, antwortete Katharina schnell, noch bevor sie wusste, was sie da eigentlich sagte. Sie kannte diesen Mann doch kaum. Aber einem Großvater konnte man doch vertrauen, oder etwa nicht?
***
»Ich wusste ja, ihr würdet euch blendend verstehen«, sagte Andreas Amendt. Sie saßen in einem großen Salon vor einem flackernden Kamin. Laura nippte selig an einer Tasse heißer Schokolade.
Paul Leydth wandte sich an seine Frau: »Angelica, was hältst du davon, Laura deine Musikinstrumente zu zeigen?«
»Das ist eine gute Idee. Laura, hast du Lust mitzukommen?«
Das kleine Mädchen stellte ihre Tasse ab und rutschte abenteuerlustig vom Sofa. »Klar.«
Angelica Leydth nahm Laura an die Hand und führte sie in einen angrenzenden Raum.
»Ein liebes Kind«, sagte der Professor. »Aber kommen wir mal zum Grund eures Besuches. – Ihr wolltet mehr über Fischer-Lause, Henthen und ihre Forschung wissen.«
»Na ja …« Andreas Amendt zuckte mit den Schultern. »Eigentlich hat es sich schon fast erübrigt. Johanna ist kein Wunderkind.«
Paul Leydth legte die Fingerspitzen zusammen. »Hm, vielleicht bist du da etwas vorschnell.«
»Aber das Genprofil –«
»Mein lieber Andreas, schon zu meiner Zeit, mit Füller und Schreibmaschinen, konnte man medizinische Unterlagen fälschen. Und ich bin mir sicher, im Zeitalter des Computers geht das noch schneller und einfacher. Wie so vieles andere auch.«
»Du meinst –?«
»Eigentlich ist es einerlei. Es kommt darauf an, was Henthen glaubt. Und offenbar liegt ihm viel an dem Kind.« Paul Leydth lehnte sich zurück und musterte sie.
»Bitte, Paul, kein Testat«, sagte Andreas Amendt genervt.
»Früher hast du nicht so schnell aufgegeben.« Der Professor wirkte ein wenig enttäuscht.
»Das hier ist doch keine Diagnose.«
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