Spät erst beginnt die europäische Moderne sich einem transzendenten Denken zu verweigern, sich auf ein doppeltes evolutionäres mentales Erbe zu besinnen. Es wird uns helfen zu bewahren, was wir haben und zu korrigieren, was an Risiken geschaffen wurde. Evolutionäres Wissen wird eine Unheil stiftende gedankliche Selbstüberhöhung oder Selbstgerechtigkeit des Menschen korrigieren, die über fast zwei Tausend Jahre die Menschen des christlichen Abendlandes verführte und noch immer verführt.
____________________
Anthropologie ist eine multidisziplinäre Wissenschaft, ist Archäologie, ist Genetik, Verhaltensforschung, Hirnforschung, Psychologie und Geschichte. Wer menschliche Entwicklung und menschliche Geschichte zu beschreiben versucht braucht die Hilfe von Wissenschaftlern und Publizisten, die über ihre Disziplin berichten. Die von mir beschriebene Reise durch zwei Millionen Jahre mentaler Evolution7 und die jetzige Reise durch eine Mentalgeschichte des Menschen fasst zusammen was Viele erarbeitet haben. Unter ihnen treffe ich eine persönliche Auswahl. Ihnen fühle ich mich verpflichtet und dankbar und entschuldige mich bei Jenen, die wichtige Ergebnisse erarbeitet haben und nicht genannt sind.
Teil I
MENTALE EVOLUTION
und
Der Weg in die frühe menschliche
Geschichte.
„Wir sollten keine Scham empfinden, die Wahrheit anzuerkennen und sie zu verarbeiten, von welcher Quelle sie kommt, selbst wenn sie uns von frühen Gesellschaften und Völkern gebracht wird.
Al-Kindl (800-873 n. Chr.)
Arabisch-irakischer Philosoph.
Kapitel 1
MENTALE EVOLUTION UND DER WEG ZU
MENSCHLICHEM VERHALTEN.
1. Von der materialen- zur mentalen Evolution.
Evolution beginnt mit der Verwandlung von Masse in Energie und ist eine materiale Evolution. Aus Masse wird Energie und der Physiker Einstein wird dafür seine Äquivalenzformel E = m x c2 finden. Ein Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren macht den Anfang und verwandelt Masse in Energie: Expansion und Retraktion, Fliehkraft und Anziehung entstehen. Zwei äquivalente Qualitäten Masse und Energie schaffen eine neue Ordnung: Ein immerwährendes Gesetz der Kausalität entsteht. Energie ist Masse und Masse ist Energie und beide bilden eine Struktur. Im Atom expandieren die Elektronen und werden durch die Anziehung des Atomkerns in eine Umlaufbahn gezwungen. Expansion und Retraktion bilden ein Atom und begründen das Gesetz der Kausalität. Was im Mikrokosmos passiert setzt sich im Weltraum fort. Die Sonne schleudert Teile ins All die als Planeten in eine Umlaufbahn gezwungen werden. Wärme verwandelt Eis zu Wasser und macht daraus bei 100 Grad Celsius Wasserdampf. Feste, flüssige und verdampfende Materialien entstehen. Im flüssigen Erdkern wird das Zusammenwirken von Wärme und Druck das Erdgestein formen. Aus einem Erdkern aus Nickel und Eisen wird bei nachlassendem Druck eine flüssige Schicht, aus welcher wiederum festes Gestein aus Silikat hervorgeht. Dieses verflüchtigt sich in eine Erdatmosphäre und neue Abhängigkeiten entstehen. Aus zwei Qualitäten wie Masse und Energie sind Wärme und Druck, dann Erdgesteine und Materialien mit unterschiedlichen Funktionen geworden. Aus der Interaktion von Masse und Energie wird die materiale Vielfalt des Alls schließlich vor etwa fünf Milliarden Jahren eine neue Form von Evolution, eine biologische Evolution möglich machen.
_______________
Auch die biologische Evolution wird vom Gesetz der Kausalität bestimmt. Was immer an neuen Strukturen, Formen und Funktionen entsteht hat eine Ursache, schafft eine neue Abhängigkeit und bringt schließlich jene biologische Vielfalt hervor, die wir bewundern und bestaunen. Wie Vielfalt im evolutionären Prozess der Biologie möglich wird hat erstmals Charles Darwin beschrieben: In „Origin of Species“ formuliert er 1859, dass Organismen eine gemeinsame Abstammung haben, dass Evolution die Aufspaltung einer vorbestehenden Art in zwei neue Arten bedeutet, dass dieser Prozess langsam und kontinuierlich abläuft und vom Umfeld kontrolliert wird7, 8, 9, 10,. Das dem Umfeld angepasste biologische Wesen überlebt und pflanzt sich fort. Was Darwin noch nicht wissen konnte war, wer oder was die Aufspaltung zu unterschiedlichen Arten einleitet. Dazu brauchte es das in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts erarbeitete Wissen einer genetischen Steuerung aller biologischen Strukturen, Formen und Funktionen. Aus Darwins Abstammungs-lehre wurde eine genetisch gesteuerte biologische Evolution.
Die biologische Vielfalt einer genetisch gesteuerten Evolution hat wiederum zwei Gründe, die Evolution möglich machen: Eine genetische Mutation lässt eine neue Art entstehen und das Umfeld entscheidet, ob diese überleben und sich fortpflanzen kann. Wem die Einpassung nicht gelingt wird zugrunde gehen und ver-schwinden. Drei Phänomene charakterisieren das ziellose Spiel der Evolution:
° In der belebten Natur gilt das Prinzip von Zugehörigkeit. Jedes Lebewesen entsteht als Reproduktion des vorher Bestehenden und pflanzt sich wiederum durch Selbstreproduktion fort. Das Junge entsteht, das Alte stirbt. In einer „Wiederkehr des Gleichen“ existiert das jugendlich Kraftvolle neben schon Verbrauchtem und Abgängigem. Kinder und Greise leben zusammen, aber auch Geschöpfe aus Milliarden Jahren der Evolution. Alt und Jung, Jahrmillionen alte Geschöpfe der Evolution existieren neben Mutanten aus jüngster Zeit. Alle sind Glieder einer Art und reproduzieren sich selbst. Reproduktion gewährleistet den Erhalt der Art und auch des Lebens.
° Neben einer Wiederkehr des Gleichen wird die Evolution durch Abgrenzung, durch Distanzierung und durch Veränderung bestimmt. Zufällig ausgelöste genetische Mutationen schaffen Neues und bewirken Veränderung. Differenzierung und Spezialisierung eröffnen neue Wege. Distanzierung und Veränderung werden zum Motor des Wandels in der Evolution und schaffen die Vielfalt des Lebendigen.
° Allerdings nur dann, wenn die „Einpassung“ gelingt und sich eine ökologische Nische für das Neue findet oder das Neue die Überlebens-sicherung verbessert. Überlebensvorteile in einem gegebenen Umfeld sorgen für die Fortentwicklung des Neuen. Was bisher Bestand hatte wird vom Besseren ersetzt. Der Fortpflanzungsvorteil entscheidet über die Geschwindigkeit des evolutionären Prozesses.
Biologisch-genetisch veranlasste Entwicklungsschritte entstehen aus einer Abfolge von Distinktion und Integration, von Unter-scheidung und Akzeptanz. Das Neue muss integriert werden, wenn es nachhaltig sein soll. Biologische Evolution ist ein dialektischer Prozess zwischen Distanzierung und Reproduktion, zwischen Andersartigkeit und Gleichheit. Nur was Überleben möglich macht wird akzeptiert und durch Reproduktion weiter gereicht. Weil das Umfeld sich laufend verändert muss auch der Anpassungsprozess sich kontinuierlich fortsetzen. Genetische Mutationen biologischer Individuen und Veränderungen in ihrem Lebensumfeld sind schließlich die Determinanten einer fort-währenden biologischen Evolution. Beide Veränderungen sind nicht geplant. Die biologische Evolution ist ein Prozess ohne Ziel.
Darwins Theorie beschreibt einen Prozess der Evolution, der in Individuen beginnt: Ein Vorteil im Überlebenskampf wird deren Reproduktionsfähigkeit verbessern. Darwins Theorie formuliert, wie dieser Prozess abläuft. Obwohl er die Mendel-Gesetze der Vererbung noch nicht kannte und genetisches Wissen noch fern war hat sein vergleichendes Genie erschlossen: Vergangenes ist stets die Ausgangsbasis für das, was wir heute vorfinden. Die Evolution kennt zwar keine Ziele, doch baut sie auf Geschichte. Sie lässt Vergangenes nicht verschwinden. Das Vergangene ist in der Embryogenese erkennbar. Sie dokumentiert, wo wir herkommen. Aus Fischen werden Landtiere, aus Fischflossen werden Extremitäten oder die Flügel der Vögel. Im biologischen Phänomen der Metamorphose wird Embryogenese sichtbar. Sie demonstriert, wie Neues aus Vorbestehendem hervorgeht. In der Metamorphose von Tieren ist der Ausgang bereits eine biologische Art. Unter unseren Augen vollzieht sich Evolution: Eine „Lebenszeituhr“ lässt Arten nicht nur wachsen. Sie verwandelt diese in zwei ungleiche Wesen. Aus einer im Wasser lebenden Kaulquappe wird ein Frosch als Landbewohner. Aus einer am Boden kriechenden Larve wird ein fliegender Schmetterling. Nicht nur Größe und Gestalt, auch Funktionen verändern sich und verbessern die Lebenschancen. Aus Jahrmillionen als Larven existierenden Tieren werden schließlich Larven, die sich in Schmetterlinge verwandeln. Tatsächlich ist die in der Metamorphose von Tieren erkennbare Evolution eine Sonderform der Evolution an sich: Was sich in der Embryogenese verbirgt entfaltet sich in der Meta-morphose vor unseren Augen. Die Vielfalt des Lebens, wo Jahrmillionen alte Geschöpfe neben im Evolutionsprozess jungen Geschöpfen existieren, die Entdeckungen der Embryogenese und schließlich das Phänomen der Metamorphose dokumentieren die biologische Evolution, wie sie Darwin beschreibt: Alle Organismen haben einen gemeinsamen Ursprung.
Читать дальше