Mit dem Aufkommen der christlichen Religion wird das Alte Testament und v.a. die Schöpfungsgeschichte zu einem Buch menschlicher Geschichte, wie im 1. Buch Mose beschrieben: Die Erde und schließlich der Mensch werden in 6 Tagen durch einen einmaligen Akt Gottes erschaffen. Gott schafft zuerst „Himmel und Erde“, dann das „Licht“ gegen die „Finsternis“ und den „Himmel“ über die „Feste“. Die „Feste“ wird zu „Erde“ und „Meer“ und bringt „Gras“, „Kraut“, „Bäume“ und „Früchte „ hervor. „Da ward aus Abend und Morgen der dritte Tag“ (1. Mose 1, 13). Am 4. Tag bringt Gott zwei große „Lichter an die Feste des Himmels“: „Ein großes Licht, das den Tag regiere und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu Sterne“. Am 5. Tag „erregt“ Gott das Wasser mit „großen Walfischen und allerlei Getier..., ein jegliches nach seiner Art“. Am 6. Tag spricht Gott schließlich: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf der Erde kriecht. Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib“ (1. Mose 1, 26-27). Dieser Schöpfungsbericht wird in 1. Mose 2, 7 ergänzt: Dort steht: „Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele“. Im 1. Mose 2, 16 und 17 gebietet Gott den Menschen: „Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben“. Danach erst spricht Gott in 1. Mose 2, 18: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei“. „Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm und brachte sie zu ihm... man wird sie Männin heißen, darum dass sie vom Manne genommen ist“ (1. Mose 2, 22 und 23). Die angesprochenen Unterschiede in der mosaischen Schöpfungsgeschichte sind entstanden, weil sie offenbar von zwei Autoren stammen.
Entstehungsmythen benutzen reale menschliche Erfahrungen.
Kosmogonien oder Theogonien sind in oral kommunizierenden Gesellschaften entstanden. Sie werden über Jahrhunderte von Generation zu Generation weiter erzählt und nach der Erfindung der Schrift auch für die Nachwelt erhalten. Sie offenbaren den Zeitgeist einer frühen Periode des modernen- oder Sapiens- Menschen im Übergang. Es ist ein Übergang des Menschen aus einer Welt der Erfahrung in eine jetzt auch vorgestellte- oder erdachte Welt. Kinder erträumen sich die Kraft eines Riesen, den Wagemut von Piraten oder die Kühnheit von Rittern bevor aus diesen Träumen Wissen wird. Warum sollte dies in der Entwicklung des Sapiens-Menschen anders sein? Wenn der Mensch zu denken beginnt träumt er und entwickelt Phantasien. Später erst werden diese von Erfahrungen korrigiert. Aus dem magischen Zauberer wird ein Wissender auf Zeit. Diese Abfolge ist auch kein Phänomen nur früher Geschichte. Was wir heute als Mythos mit magischen Vorstellungen erklären war früher die Vorstellung der Wissenden und Gelehrten und was heute Wissen ist mag sich morgen schon in eine seltsame-, in eine nicht mehr glaubwürdige-, gar in eine magisch anmutende Vorstellung verwandeln.
Magie ist auch kein nur historisches Phänomen, denn „es kommt nicht darauf an was die Dinge von sich aus, für sich oder an sich sind, sondern welche Beziehung wir zu ihnen einnehmen“, so Hartmut Böhme. In seinem umfangreichen Werk „Fetisch und Kultur“68 beschreibt er wie Fetischismus oder Magie auch in unserer heutigen Gesellschaft noch immer verbreitet sind. Sind das Hufeisen an der Tür oder eine Auferstehung von den Toten oder Himmelfahrt nicht auch Magie?
Entstehungsmythen sind in Bildern erzählte Dokumente, in welchen das Unerklärbare des Anfangs mit Erfahrungen aus dem Alltag der Menschen verglichen wird und die Akteure des Handelns zu bewunderten Gestalten mit magischen Kräften und schließlich zu Göttern werden. In den Entstehungsmythen begegnen wir Erfahrungen, welche Menschen fortwährend machen: Nicht selten wird das Ei zum Symbol eines Übergangs: Wer beobachtet, wie aus Eiern lebendige Küken werden, wird sich nicht über Weltentstehungsmythen wundern, in welchen das Ei eine wichtige Rolle spielt. Im chinesischen Mythos ent-springt der Riese Pangu einem Ei, bevor aus ihm Sonne und Mond, Flüsse und Meere, Donner und Wind werden. In den indischen Veden wird der in den „Ozean der Ursachen“ verspritzte Samen des Maha Visnu zu einem Ei, aus dem Brahma heraustritt und in „einhundert herrlichen Jahren“ der Meditation die bisherige „Schattenenergie“ in eine obere-, eine mittlere und eine untere Welt strukturiert. Er haucht diesen Welten „Wesenhaftigkeit“, Zwecke, Werte und Ziele ein, erfüllt Pflanzen und Tiere mit Geist und setzt eine Entwicklung der Menschheit in Gang, indem er aus sich selbst einen Mann und eine Frau werden lässt. Das „Ei“ wird in Weltentstehungsmythen zum Symbol eines Beginns.
Das Ei wird auch zum Ausgangspunkt einer „Metamorphose“ welche Menschen regelmäßig in der Natur beobachten können. Aus einem Ei wird eine Henne als Landtier oder ein fliegender Vogel. Nicht nur das Aussehen, auch ein anderes Verhalten und neue Möglichkeiten des In der Welt Seins entstehen, wenn wir in der Biologie von „Metamorphose“ sprechen. Aus einem im Wasser lebenden Tier wird ein Landtier mit neuem Lebensumfeld. Die Metamorphose ist Symbol eines Übergangs. Wenn aus einer Raupe ein Schmetterling wird, so ändert sich nicht nur die Gestalt. Auch das Verhalten ändert sich und neue Fähigkeiten entstehen: Der Schmetterling kann fliegen. Er ist nicht mehr an einen Ort gebunden wie die Raupe. Sein Erkundungsfeld ist größer geworden. Wenn eine Kaulquappe zum Frosch wird verändert sich nicht nur die Form, die Größe und das Aussehen. Metamorphosen und deren erkennbare Folgen waren für die Menschen der Frühzeit eine Erfahrung. Im Mythos von Pangu oder von Brahma werden Meta-morphosen geschildert. Aus einem ruhenden und kugeligen Ei entwickeln sich nicht nur neue Strukturen, sondern neue Wesen mit neuartiger Wirksamkeit. Das Ausgangswesen stirbt oder verschwindet und ein neues Wesen mit neuen Fähigkeiten und Möglichkeiten entsteht. Im „Hundun-Mythos“ wird aus einem „Ungeschiedenen“ oder nicht-menschlichen Primaten ein bewusst werdender Mensch oder Hominide. Metamorphosen sind Beispiele für die Entwicklung neuer Möglichkeiten des in der Welt Seins, damals schon und auch noch heute. Ist der Wandel vom Kind zum Adoleszenten nicht auch eine mentale Metamorphose?
Immer unternimmt der Mensch in seinen Weltent-stehungsmythen den Versuch hinter einen Vorhang des Sichtbaren, des Erlebbaren, des Verstehbaren zu schauen. Man spekuliert, wie alles entstanden sein könnte und entwickelt dafür Bilder. Ausgangspunkt ist in den meisten Kosmogonien eine kaum beschreibbare Welt als unstrukturierte Masse. In der griechischen Mythologie spricht man von einem Gott „Chaos“, der diese Vorwelt oder „präexistente“ Welt symbolisiert. Im Mythos der indischen Veden entsteigt Maha Visnu einer „Schatten-energie“ oder einem „Ozean der Ursachen“. In der ägyptischen Schöpfungslehre von Heliopolis taucht der von selbst entstandene-, lichtlose-, formlose-, bewusstlose- und präexistente „Atun“ aus einem Urschlamm auf, wird zur Sonne und schafft eine erste, noch ungeformte Atmosphäre aus Licht, Luft und Feuer. Weitere Götter-generationen erschaffen die Erde und den Himmel, dann Pflanzen, Tiere und Menschen, bis schließlich fünf ägyptische Göttergestalten Osiris, Isis, Setha, Nephtys und Horus das menschliche Handeln lenken. Chaos, Schatten-energie, Urschlamm sind menschliche Vorstellungen für Materialien ohne Struktur. Was Menschen schaffen und formen ist strukturiert und wird aus strukturlosen Materialien gewonnen. Was also liegt näher als diese Erfahrung auch auf das Entstehen der Welt zu übertragen.
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