In vollkommener Verkennung des segensreichen Zwecks empfand ich diese Sonderförderung als demütigend und sadistisch. Kurz, ich litt wie ein Hund unter dieser Bevorzugung.
Eines Tages nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und wandte mich auf Anraten meines Bruders nach der Schulstunde direkt an sie. Ich spürte ihr Erstaunen, als ich sie bat, mir zu helfen, meine mündlichen Leistungen zu verbessern. Sie reagierte schroff und unwillig. Wahrscheinlich erlebte sie mich als undankbar und sagte, ich sollte mich mehr auf den Hosenboden setzen und lernen. Von diesem derart originellen Ratschlag war ich tief bewegt. Zu meinem Erstaunen folgte diesem Gespräch eine eindrucksvolle Veränderung. Von Stund’ an entfiel das unterhaltsame Eröffnungszeremoniell der Mathematikstunde, zum Bedauern einiger Schulkameraden. Die Direktorin behandelte mich nun wie jeden anderen Schüler. Ich stand noch eine Zeit lang unter starker Anspannung. Als diese langsam abflaute, begriff ich recht schnell und meldete mich sogar, wenn ich mich einer richtigen Lösung sicher wähnte. Meine Leistungen verbesserten sich. Das registrierte auch meine Förderin. Ich bin davon überzeugt, dass sie diese Veränderung ihren hoch entwickelten pädagogischen Fähigkeiten zugeschrieben hat. Eine andere Methode, die auch eher der Einschüchterung als erfolgreichem Lernen diente, durfte ich bei unserem Lateinlehrer erleben. Wir nannten ihn „Klöte“. Der Spitzname kam seinem tatsächlichen Namen phonetisch sehr nahe. Dieser knorrige, ältere Mann, immer bekleidet mit demselben grauen Anzug, besaß eine bemerkenswerte Angewohnheit: Stets patrouillierte er auf dem Mittelgang zwischen den Sitzreihen auf und ab. Besonders zu bedauern waren die am Gang sitzenden Schüler, weil er diese bevorzugt befragte. Ich besaß einen solchen Platz und niemand war bereit, ihn mit dem seinen zu tauschen. Bei einer falschen Antwort auf seine Fragen näherte sich „Klöte“ dem Gesicht des betroffenen Schülers und kreischte diesem ins Ohr: „Na, da haben wir wohl wieder mal mit Zitronen gehandelt!“ Dem folgte ein schrilles, höhnisches Lachen. Diese hilfreiche Aufmunterung erfuhr auch ich. Die Male, und es waren gar nicht wenige, als er seine Fragen an mich stellte, hatte ich das zweifelhafte Vergnügen seiner Nähe, und es traf mich nicht nur sein schrilles Lachen, sondern zusätzlich noch ein Schwall übelriechenden Mundgeruchs.
Erstaunlicherweise führte auch diese ausgeklügelte pädagogische Methode bei mir nicht zu Motivationsschüben und guten Lernergebnissen, steigerten aber meinen Handel mit Südfrüchten.
Es war einigen Lehrern gelungen, dass ich an meinen Fähigkeiten ernsthaft zweifelte. Insofern entsprach dieser Schulabschnitt der Einschätzung meines bildungssachverständigen Onkels. Kaum auszudenken, was ohne den Schutzschild meiner Interesselosigkeit geschehen wäre. Hätte ich, wie viele meiner Mitschüler Ehrgeiz besessen, ich wäre vermutlich an meinen Misserfolgen verzweifelt und hätte mein Versprechen gebrochen. Das aber durfte nicht geschehen.
Der Fairness wegen möchte ich abschließend noch einen Lehrer erwähnen, der mit seinem ungewöhnlichen Unterrichtsstil dazu beigetragen hatte, dass ich nicht aufgegeben habe. Durch ihn erfuhr ich ein bedeutsames Prinzip, dass ich erst viel später erkannte und dass mein Denken und Handeln stark beeinflusst hat.
Es war der Nachfolger des grauen, zynischen Lateinlehrers mit dem schlechten Mundgeruch. Auch der Neue war ein älterer Mann, besaß große Vitalität, Optimismus und Gelassenheit, galt aber als harter Hund. Alle nannten ihn nur den „Doktor“. Meine Leistungen waren von seinem Vorgänger als mangelhaft bewertet worden. In allen übrigen Fächer sah es mit einem mageren Ausreichend nur wenig besser aus, aber es reichte gerade noch für die Versetzung.
Der Doktor erklärte zu Beginn, er stehe uns als Angebot genau für die Dauer der Schulstunde zur Verfügung. Als Angebot! Ich dachte ich hätte mich verhört. Das war etwas ganz Neues und Ungewöhnliches in diesem verstaubten Laden. Das Erstaunlichste aber waren seine folgenden Aussagen: Er sei gern Lehrer und es mache ihm Spaß zu unterrichten. Den wolle er sich nicht durch lustlose und unwillige Schüler verderben lassen, die zudem interessierte Schüler am Mitmachen hinderten. Deshalb werde er es uns freistellen, sein Lehrangebot anzunehmen. Er sei verantwortlich für das, was wir lernten, aber nicht dafür, ob wir lernten. Das sei allein unsere Sache. Wer also nicht am Unterricht teilnehmen wolle, müsse sich zwar in der Lateinstunde im Raum aufhalten, könne sich aber mit anderen Dingen beschäftigen, wenn er dadurch andere nicht stört. Außerdem habe er die ganze Zeit über den Mund zu halten. Auf dem Zeugnis werde ein Mangelhaft als Zensur erscheinen.
Ich hielt dieses Angebot zunächst für einen Witz und war misstrauisch. Der Doktor aber wirkte vollkommen ernst. Ich fühlte mich angesprochen. Da ich im wahrsten Sinne des Wortes mit meinem Latein am Ende war, traute ich mir in diesem Fach keine Verbesserung mehr zu. Selbst wenn ein Pflänzchen Interesse an der lateinischen Sprache in mir aufgekeimt wäre, dann hätte es „Klöte“ mit seiner hämischen Freude am Versagen seiner Schüler gründlich zertrampelt.
Deshalb faszinierte mich diese Möglichkeit, aus dem Lateinunterricht auszusteigen. Ich meldete mich. Der „Doktor“ ließ mich meine Entscheidung noch einmal bekräftigen. An die anderen gewandt, wollte er wissen, ob sich mir noch jemand anzuschließen gedachte. Ich blieb der Einzige. Das machte mich ein wenig stolz.
Ich habe dann überlegt, was geschehen wäre, wenn alle Schüler oder eine große Anzahl sich gegen seinen Unterricht entschieden hätten? Ein Lehrer, der den meisten Schülern im Unterrichtsfach schlechte Zensuren verpasst, wäre doch im Schuldienst nicht tragbar. Aber wahrscheinlich getrauten sich nur Wenige, von seinem Angebot Gebrauch zu machen, und die meisten waren auch mit ihren Leistungen nicht so schwach wie ich. Damit wird er gerechnet haben. War ich vielleicht sogar sein erster Lateinverweigerer?
Im Verlauf des Unterrichts begriff ich, dass er sich damit die Mitarbeit der anderen Schüler gesichert hatte. Mit ihrem Verzicht auszusteigen, hatten sie ihm dafür indirekt eine Zusage gegeben, aktiv mitzumachen. Das war außerordentlich schlitzohrig. So erinnerte er unaufmerksame Schüler und solche, die die Hausaufgaben nicht gemacht hatten, an ihre Zusage mitzumachen. Anderenfalls müssten sie ja neben mir sitzen.
Der Erfolg trat ein. Verglichen mit dem Unterricht zuvor, gab sich jeder beim Doktor ernsthaft Mühe und man kam gut voran. Ich lernte durch ihn einen lebendigen und lockeren Unterrichtsstil kennen, der sich wohltuend von dem der meisten anderen Lehrer unterschied. Ich jedenfalls genoss meine Sonderrolle, fühlte mich frei und freute mich, dass ich nicht unter dem Joch des Vokabellernens und der lateinischen Grammatik stöhnen musste. Aber bereits nach der zweiten Woche hatte sich die Freude über meine exklusive Stellung merklich abgeschwächt. Ich begann mich zu langweilen und folgte immer öfter dem Unterricht. Wie einfach Latein doch war: Logisch, klar strukturiert, keine Zungenbrecher wie im Englischen und Französischen. Die Lateinstunden der nächsten Wochen vergingen quälend. Ich beantwortete jede Frage, übersetzte jeden Satz und ordnete die Fälle zu. Alles im Stillen und alles korrekt. Manchmal brachte mich die Begriffsstutzigkeit meiner Klassenkameraden fast zur Verzweiflung. Dann in der vierten Woche geschah es: Ein Satz sollte grammatikalisch analysiert werden. Eine ganz einfache Sache. Wieder einmal herrschte Schweigen aus Unkenntnis und Unsicherheit. Als es für mich unerträglich wurde, platzte ich laut mit der richtigen Lösung heraus. Der Doktor schaute mich strafend an, aber ehe er etwas sagen konnte, fragte ich, ob ich am Unterricht wieder teilnehmen dürfte. Ich erhielt ein kühles „in Ordnung“. Von nun an machte mir Latein Spaß und ich konnte bis zum Ende des Schuljahres ohne größeren Aufwand eine mehr als befriedigende Leistung erzielen. So bildete der Unterricht beim „Doktor“ einen der wenigen Glanzpunkte in diesem Schulabschnitt. An der Quälerei durch die anderen Lehrer konnte das aber nichts ändern. Als der „Doktor“ die Schule verließ, entschied ich mich für einen Mittelweg zwischen Aufgeben und Weitermachen. Ich wechselte zum Schulhalbjahr in ein anderes Gymnasium mit einer naturwissenschaftlichen Ausrichtung.
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