Die Bedürftigen
Ich begegnete einer weitaus schwierigeren Gruppe, mehrheitlich bestehend aus Frauen, oft schwärmerisch an meinem Fachgebiet interessiert, weniger an mir als Mann, was mich manchmal ein wenig kränkte.
Von diesen Personen ging ein starker Sog aus, denn sie schienen meine Hilfe ernsthaft zu benötigen. Schon damals erhoffte man sich vom verständnisvollen Psychologiestudenten, etwas über sich und die problematische Partnerbeziehung in Erfahrung zu bringen oder gar Probleme lösen zu können. Wer wollte sich da verweigern? Ich legte mich also mächtig ins Zeug und griff tief in die Psychokiste, ließ mir ausführlich die Probleme schildern, fragte behutsam nach frühen Erlebnissen, konstruierte Zusammenhänge, benannte Ursachen und produzierte Deutungen wie am Fließband. Dabei triefte ich vor Verständnis und Fürsorglichkeit. Aber auf den behutsamsten Versuch, meinen „Patienten“ zu einer Veränderung der ein oder anderen Verhaltensweise zu bewegen, folgte prompt als Antwort: „Das kann ich nicht“, oder „das habe ich längst vergeblich versucht“. Es waren letztlich Mahnungen, mir endlich etwas Vernünftiges auszudenken. Sie zielten ins Zentrum meiner Eitelkeit. Und was für ein Hochgefühl von Nützlichkeit und Wirksamkeit war damit verbunden! Also gab ich mir noch mehr Mühe, bis ich schließlich erschöpft aufgab und den Kontakt beendete. Damit war ich in den Augen dieser „Patienten“ ein Versager. Es bedurfte einige solcher Misserfolge, bis ich die Sinnlosigkeit und Risiken unprofessioneller Gelegenheitsberatungen begriffen hatte.
Auch nach Abschluss meiner Ausbildung setzten sich solche Ansprüche auf Beratung bis zum heutigen Tag fort. Ich gewann dabei den Eindruck, dass man auf unverbindliche Weise Hilfestellung von mir eine Problemlösung oder eine fachliche Bestätigung für das eigene „richtige“ Verhalten erhalten wollte.
Nicht nur in dieser Gruppe besteht die Auffassung, dass man mit der Konsultation von Psychologen als Therapeut oder Berater gleichzeitig die Verantwortlichkeit für eigene Veränderungen an diese abgibt. Diese Haltung scheint weit verbreitet und zeitlos zu sein.
Ich musste also lernen, mich behutsam zu verweigern und erklärte meinen Klienten, dass ich unter den gegebenen Umständen nicht weiterhelfen könne und wolle. Das wurde oft als grobe Zurückweisung verstanden, stempelte mich zu einem beruflichen Versager ab und verstärkte in vielen Fällen die Haltung, die vor Veränderungen schützt, oder in Worte gefasst, „Mir kann sowieso niemand helfen.“
Im Privaten
Nahezu bei jedem neuen privaten Kontakt tauchte irgendwann die Frage auf, wie es kam, dass ich Psychologe geworden bin. Neben anerkennenden und interessierten Reaktionen war bei vielen Leuten ein etwas süffisanter, oftmals mitleidiger, gelegentlich auch misstrauischer Unterton herauszuhören. Damit brachte man wohl zum Ausdruck, dass ich vermutlich den Beruf deshalb ergriffen habe, weil ich selbst eine Person dieses Faches benötigen würde, um aus einer seelischen Schieflage hinauszugelangen, oder deutlicher formuliert: „Der hat Psychologie studiert, um sich selbst zu heilen, weil er einen an der Klatsche hat und selbst einen Psychologen braucht“. Natürlich hat man mir das nicht direkt ins Gesicht gesagt. Dass der Berufswunsch als Ausdruck einer psychischen Störung gesehen wird, habe ich immer wieder bis heute aus tiefer Überzeugung laut und ernst, manchmal in spaßiger Form, vernommen.
Tröstlich dabei ist wenigstens, dass man dem fertig ausgebildeten Psychologen zutraut, anderen Menschen bei der Bewältigung psychischer Schwierigkeiten helfen zu können, auch wenn es nur der gestörte eigene berufliche Nachwuchs ist.
Selbst wenn es sich so verhielte, kann man dem angehenden Psychologen immerhin zugestehen, dass er sich um seine psychische Gesundheit kümmert, auch wenn er dabei einen falschen Weg gewählt hat. Ein Studium lehrt, aber es heilt nicht.
Auch im familiären Umgang spielten bestimmte Vorstel-lungen und Erwartungen an meinen Beruf eine Rolle. Bei gelegentlichen Partnerkonflikten hieß es beispielsweise: „Du hättest doch sehen müssen, wie es mir geht, … was ich fühle, … was mir wichtig ist, … warum ich so oder so reagiert habe …“, und dann folgte der Fangschuss: „du bist doch schließlich Psychologe.“
Auch in Fragen der Erziehung kamen Hinweise und Verhaltensvorschläge auf Grundlage meiner Kenntnisse in der Entwicklungspsychologie gegen das mütterliche Wissensmonopol nicht an. Durch die unheilvolle Verknüpfung von Beruf und Partnerschaft wird das eigene Versagen potenziert. Und was viel schlimmer ist, eine solche Zwickmühle ist nicht mit Argumenten aufzulösen. Entweder war ich ein rücksichtloser Partner oder ein grottenschlechter Psychologe. Das tut dem Selbstwertgefühl nicht gut.
Diese bunte Mischung aus unterschiedlichen Erwartungen und Bewertungen, wie ich sie bei vielen Menschen angetroffen habe, zeigt ein widersprüchliches Bild der angewandten Psychologie. Es wäre wünschenswert, dass umfassende und verbindliche Informationen vermittelt würden, damit nicht nur Hören-Sagen, gelegentliche Kontakte mit einem Psychologen und Fernsehserien das Bild dieses Arbeitsgebietes prägen. Eine sehr sinnvolle Aufgabe für die Berufsverbände.
Warum wird man Psychologe?
Ehe ich darauf eingehe, wie ich zu meinem Beruf gekommen bin, möchte ich einige der mehrheitlich kritischen Stellungnahmen darstellen, die ich in einem Internetforum zu folgender Frage fand:
„ Warum sollte man Psychologe werden?“
„Na um anderen zu helfen natürlich...!! es sei denn, man ist ein kleiner fieser sack, der alles wissen will von jedem, um sich an den Geschichten der Leute zu ergötzen.“
„Das machen manche die bescheuert sind und sich selber helfen wollen. Wird meist leider nichts.“
Wer helfen kann, und gelegentlich auch hilft, ist der Therapeut. Exakter, der Psychotherapeut, der in der Regel Mediziner, also Psychiater und häufig auch Neurologe ist. Deshalb, erregt euch nicht über den Psychologen, der eh ganz unten in dieser Reihe anzusiedeln ist (und die meisten von ihnen fahren Taxi, wie Romuald in Hamburg, weil die keinen Job bekommen) und der schon mit dem Fachabitur zu erlangen ist. Der Psychiater hingegen benötigt das 'Vollabitur' und erlernt seine theoretischen Kenntnisse an einer Uni.“
Soweit einige Bewusstseinsskizzen über Motive, Fähigkeiten und Arbeitschancen von Psychologen. Da sich in solchen Foren vermutlich eher jüngere Menschen austauschen, ist wohl das Fortbestehen dieser Überzeugungen für die Zukunft gesichert.
Ich muss an dieser Stelle einräumen, dass auch mein eigenes Verhalten, das der Kollegen und nicht zuletzt dieses Buch durchaus geeignet sind, einen Beitrag zu diesen Einschätzungen zu liefern.
Wie bei jeder Berufswahl, eine Wahlmöglichkeit vorausgesetzt, werden verschiedene Einflüsse wirksam, die schon vorher die eigentliche Entscheidung beeinflussen. In meinem Fall waren es zwei bedeutsame Bedingungen: Zum einen war es meine Schulwahl. Der Wunsch, das Gymnasium zu besuchen, entsprang jedoch nicht dem Streben nach höherer Bildung. Ein damit verbundenes Versprechen führte aber dazu, dass ich schließlich die Reifeprüfung bestand.
Zum anderen war es die Begegnung mit einem Psychologen während der Oberschulzeit, die den Weg zu meinem Beruf bahnte. Meine dort gesammelten Erlebnisse haben Einfluss auf mein späteres berufliches Denken und Handeln genommen.
Diese Geschichten will ich hier erzählen.
Schule
In der Grundschule war ich ein guter Schüler, galt als freundlich und sympathisch, glänzte manchmal im Unterricht mit verständigen Beiträgen und beteiligte mich engagiert. Aber ebenso schnell, wie mein Interesse aufflammte, verlosch es auch wieder. Ich tarnte mich dann mit einem wachen und aufmerksamen Gesichtsausdruck, um dahinter zu träumen. Diese Mimikry hat mich später als Erwachsener gut durch viele öde Besprechungen gebracht. Damals war es mir gleichgültig, wie es mit mir in der Schule weitergehen würde. Ein Besuch des Gymnasiums stand überhaupt nicht zur Diskussion. Ich sollte die Realschule besuchen und etwas „Ordentliches“ lernen. Die gymnasiale Karriere meines älteren Bruders war trotz zahlreicher Nachhilfestunden gescheitert, und er durchlief nun lustlos eine Lehre als Maschinenschlosser.
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