Solche Leistungen erklären zum Teil, warum viele Menschen der Psychologie mit Misstrauen und Vorbehalten begegnen und behaupten, dass Psychologen „selbst einen an der Klatsche haben“, so wie diese Behauptung mir in verschiedenen sprachlichen Varianten immer wieder begegnete.
Kommentar
Psychologen haben in einer Rekordzeit von etwa einhundertachtzig Jahren nahezu jeden Lebensbereich unserer Gesellschaft „erobert“. Es existiert kaum ein Ereignis oder Thema, zu dem Psychologen nicht ihre Weisheiten beitragen. Dennoch ist die Kenntnis, was diese Berufsgruppe in der Praxis konkret tut, nicht sehr ausgeprägt. Selbst jene, die gute Erfahrungen im Umgang mit meiner Berufsgruppe gemacht haben, können nicht genau angeben, womit und wodurch ihnen geholfen wurde. Bruchstückhafte Informationen hinterlassen Lücken, die mit allerlei Fantasie aufgefüllt werden.
Auf der anderen Seite lassen sich auch erhebliche Überschätzungen beobachten, was Umfang und Wirksamkeit praktisch-psychologischen Handelns betrifft. Zugespitzt formuliert heißt das:
Man beschäftigt Psychologen, obwohl man nicht genau weiß, was sie können und was sie tun. Es genügt die Vermutung, dass sie das können müssten, was sie tun sollen. Schließlich haben sie ja studiert.
Möglicherweise ist es genau dieser Glaube, der in vielen Fällen unbestritten positive Ergebnisse aus psycholo-gischer Tätigkeit hervorbringt. Das könnte bedeuten, dass wir in einigen Bereichen lebende Placebos sind. Wie einfach es war, als Psychologe Zugang zu allen möglichen Arbeitsbereichen zu erhalten, können Sie an meinem Berufsstart und an einigen meiner späteren Arbeitsaufträge erkennen.
Wie geht man mit Psychologen um?
In der Folge habe ich eine scherenschnittartige, private Typologie von Menschen entworfen, denen ich außerhalb meiner Arbeit begegnet bin und die in besonderer Weise auf mich und meinen Beruf reagierten.
Die Skeptiker
Wenn man sich früher nach meinem Studienfach erkundigte, oder heute nach meinem Beruf, reagierten nicht Wenige auf meine Antwort mit dem Kommentar: „Oh, das ist ja interessant!“, oft gefolgt von einem wissenden Lächeln und einem erkenntnisträchtigen „Ach so!“ Der Ton-fall besagte so etwas wie: „Na, dann ist ja alles klar.“ Ich habe leider nie erfahren, was nun klar war.
Ähnliche Reaktionen zeigten sich, wenn man nach meinem Sternzeichen fragt. Hierbei dürfte der Erkenntnisgewinn aber erheblich größer sein. Kundige Anhänger der Astrologie können selbstverständlich die Charaktereigenschaften eines Wassermannes wie ich von denen eines Löwen, einer Jungfrau oder einer Waage genau unterscheiden.
Im Allgemeinen hielten sich diese Personen mit Fragen zu meinem Beruf auf Distanz. Wurden sie gestellt, dann bezogen sie sich meist nur auf die Fähigkeit der sogenannten Menschenkenntnis. Das meint den Blick in die Tiefe der Seele des Gegenübers, durch den dessen wahres Wesen blitzschnell erfasst werden kann. Hier zeigte sich eine zwiespältige Haltung: Einerseits glaubte man nicht so recht an diese Fähigkeit, andererseits war man sich aber unsicher, weil so etwas ja wohl an den Universitäten gelehrt werde.
Die Ängstlichen
Nicht selten traf ich auf Personen, die vermuteten oder sogar überzeugt waren, dass Psychologen genau diese blitzdiagnostischen Fähigkeiten erworben hätten und damit verborgene dunkle Begierden und Gelüste im Menschen sofort erkennen können. Eine solche Sorge bestand auch bei mir, als ich während der Schulzeit einem Psychologen begegnete. Ich gebe zu, dass ich ihm nahezu magische Kräfte zuschrieb, die mich ängstigten. Nachdem ich jedoch selbst den Beruf ausübte, gestaltete sich der Kontakt mit Personen dieser Gruppe recht schwierig. Belanglose Bemerkungen oder allgemeine Feststellungen meinerseits wurden vom Gegenüber als Deutungen seiner Charaktermerkmale interpretiert. Das zwang mich, die Worte sorgsam zu wählen, um Beunruhigungen und Verletzungen des Anderen zu vermeiden. Es waren anstrengende Kontakte. Bemerkenswert ist, dass ich mit dieser angeblichen Fähigkeit nur die dunklen Flecken auf der psychisch weißen Weste des Gesprächspartners aufspüren würde, nicht aber seine Stärken und Potenziale.
Meine beschwichtigenden Hinweise, dass ich einen solchen „Röntgenblick“ nicht für möglich halte, ihn deshalb auch nicht besäße, verhallten ungehört.
Es gab auch noch eine andere typische Reaktion auf meinen Beruf. Beispielsweise bei der Teilnahme an einer sich spontan gebildeten Skatrunde mit wenig bekannten Personen in der Kneipe, bei der ich Bier und Schnaps trank, über schmutzige Witze lachte oder solche erzählte, mit dummen Sprüchen das Ausspielen der Karten kommentierte und mich aufregte, wenn mein Mitspieler nicht aufgepasst hatte. Wenn dann bekannt wurde, dass ich Psychologe bin, entstand so etwas wie Erstaunen bei den Mitspielern wohl darüber, dass ich mich in ihren Augen ziemlich normal verhielt. Von da an veränderte sich das Spiel. Die Spontaneität war verflogen, es wurde weniger gelacht und vorsichtiger gespielt.
Die Unbesiegbaren
Hier handelte es sich meist um Männer, die eher selten der Bildungselite zugehörig waren. Mit verschränkten Armen vor der Brust behaupteten sie, dass es kein Psychologe schaffen könne, sie zu analysieren. Manchmal wurde ich mit den Worten herausgefordert: „Na, versuchen Sie mal, mich zu analysieren!“ Diese kraftmeierische Sichtweise unterstellt, dass ich in der Lage wäre, mittels eines mentalen Gewaltaktes Menschen niederzuringen, in ihr Seelenleben und in ihre Intimsphäre einzudringen, um über sie Macht zu erlangen und möglicherweise ihre Persönlichkeit umzukrempeln.
In einigen Fällen wäre diese Kraft durchaus wünschenswert gewesen. Man wies mir zwar besondere mentale Kräfte zu, die aber die Mauer ihres heldenhaften Widerstandes nicht brechen könnten. Damit wird auch deutlich, dass jene als schwach betrachtet werden, die sich auf einen Psychologen einlassen, eine Haltung, die in anderen Ländern nicht so ausgeprägt erscheint, wie bei uns. In den USA beispielsweise ist die Inanspruchnahme eines Therapeuten nicht anstößig, sie ist eher Privileg und Statussymbol einer wohlhabenden Mittelschicht.
Meine Beteuerungen, wie auch bei der Gruppe der „Ängstlichen“, in der Freizeit kein ständiges Interesse am Innenleben meiner Mitmenschen und schon gar nicht Lust auf solche merkwürdigen Kraftproben zu besitzen, konnten nicht überzeugen. Im Gegenteil, sie wurden oftmals als hinterhältiger Versuch betrachtet, mit dieser Diskussion mir Zugang durch die Hintertür in die Psyche meiner Gesprächspartner zu verschaffen. Das macht hilflos. Aus einer solchen Falle kommt man nicht heraus. Wie gern hätte ich mich manchmal als Maschinenbauingenieur ausgewiesen. So blieb mir nur, dieses Thema möglichst zu vermeiden oder auf den Kontakt mit solchen Leuten zu verzichten. Das war kein sonderlicher Verlust, aber nicht immer möglich.
Die Konkurrenten
Eine andere Gruppe, geschlechtlich eher gemischt, besteht aus Personen, die voller Überzeugung behaupten, selbst praktische Psychologen zu sein. Sie könnten ihr Gegenüber durchschauen und sofort erkennen, wes Geistes Kind dieser ist. Ihre Menschenkenntnis - und das ist für sie Kerngehalt von Psychologie - hätten sie an der „Universität des Lebens“ erworben. Wegen ihrer intuitiv-praktischen Fähigkeiten könnte ich ihnen, als blutarmer, akademischer Theoretiker, nicht das Wasser reichen. Solche Behauptungen gegenüber einem Arzt, Physiker oder Historiker dürften wohl recht unwahrscheinlich sein. Allerdings haben deren Wissenschaften auch schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel und sind nicht ganz so umstritten, wie die meine. Im Grunde bedeutet diese Behauptung, dass ich ein aufgeblasener Nichtskönner wäre, dessen Fähigkeiten nicht über die Anwendung des „gesunden Menschenverstandes“ hinausgingen und dessen Beruf im Grunde überflüssig sei. Nun mögen erstere Behauptungen ja vielleicht sogar zutreffen, aber was ist der gesunde Menschenverstand? Es hat einige Zeit gebraucht, bis ich gelernt habe, mich dieser Art von Wettstreit zu entziehen.
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