Mom konnte die ganze Zeit nur heulen und Grandpa war aus London gekommen, um sie zu trösten. Dad zog sich meist in sein Arbeitszimmer zurück. Meine Eltern hatten die ideale Ehe gelebt, aber ich war mir nicht sicher, ob das so bleiben würde.
Dad, ein gutaussehender, stiller Ingenieur aus Deutschland, war meiner Mutter nach England gefolgt, kurz nachdem sie sich in einem Zug in Frankreich kennengelernt hatten. Beide waren Anfang zwanzig und das Mutigste was Dad je getan hatte, war nach England zu ziehen, um das schönste Mädchen der Welt zu heiraten. Es muss wahnsinnig romantisch gewesen sein.
Mom unterrichtete Kunstgeschichte und Dad hatte sich zur Ruhe gesetzt, kurz bevor die Sache mit Claire passierte. Ihr Leben war bilderbuchhaft gewesen - bis jetzt.
Ich fühlte mich einfach machtlos und schwach. Dann änderte sich meine Stimmung schlagartig. Ich weinte keine Tränen mehr und war nur noch wütend. Auf alle. Mir schien es so, als hätten sie alle aufgegeben.
Aber Claire lebte doch noch! Ganz bestimmt.
Als ich Dad in der Küche begegnete, beschloss ich das Thema anzusprechen. “Wir müssen etwas unternehmen,” tastete ich mich vor.
“Etwas unternehmen?”
“Du solltest einfach hinfahren…”
“Nach Botswana? Was soll ich denn dort? Mom braucht mich hier und die Polizei tut schon alles was sie kann. Sie wollen mich nicht dort, in Afrika,” fuhr Dad gereizt auf, nur um sich Sekunden später dafür zu entschuldigen. “Tut mir leid, Kleines, meine Nerven…”
Ich hätte ihn anschreien mögen. Die Polizei tut alles was sie kann? Wirklich?! Mach was, Dad, tu’ endlich was! Aber ich schwieg nur.
Es tat weh über Claire zu reden. Mom nahm Beruhigungspillen und wollte nur mit ihrem Psychotherapeuten sprechen. Ich hatte das unerklärliche Gefühl, dass sie mich irgendwie verantwortlich machte. Der Gedanke, dass ich selbst nach Botswana gehen sollte, um Claire dort zu finden, reifte in mir.
Als sich die Wogen geglättet hatten und keine Artikel mehr in der Zeitung erschienen, traf ich mich mit meinen Freundinnen zum Tee. Die reh-äugige Sahida war gerade bei der Hochzeit ihrer Schwester in Manchester. Ich fragte mich, ob sie mich verstanden hätte; meinen Plan nach Afrika zu gehen, um Claire zu finden und all das.
“Was willst du denn da, Bridget – in Botswana?”
Liz sprach das Wort aus, als ob es sich um ein scheußliches Insekt handelte.
“Ich wusste ja gleich, dass was passieren würde als Claire wegging.” Ihre Nasenspitze zitterte.
“Ach so’n Quatsch, Liz, wie kannst du sowas vor Bridget sagen,” schimpfte Diane ungewohnt heftig. “Das wusstest du überhaupt nicht. Niemand konnte das wissen. Claire ist doch schon so viel gereist und kennt sich aus in der Welt.”
Wir starrten sie an. Diane war sonst immer so sanftmütig.
Liz ließ nicht locker. “Ja OK, aber das hat ihr jetzt auch nicht geholfen. Warum ist Claire denn nicht nach Italien oder Spanien gegangen? Oder nach Amerika? Dann wäre sie wenigstens in einem zivilisierten Land gewesen.” Sie nahm kein Blatt vor den Mund. Liz meinte es gut, auf ihre Art.
“Vielleicht war es ja Schicksal. Ich meine, dass Claire nach Botswana gezogen ist und ich sie jetzt dort finden muss.”
Das machte eigentlich keinen Sinn, aber ich suchte selbst noch nach einer logischen Erklärung.
“Oh Bridsch, natürlich denkst du so…” meinte Diane besänftigend, als wollte sie eine Verrückte ganz vorm Durchdrehen abhalten.
Beide warfen mir mitleidige Blicke zu. Ich konnte ja schließlich nichts dafür, dass ich solche dummen Sachen von mir gab.
“Oh hört schon auf, mich so anzustarren! Claire braucht mich. Sie ist irgendwo da draußen und es geht ihr gut, verstanden? Ich kann es spüren.”
“Ja sicher, kannst du es spüren —” Liz wechselte schnell das Thema. “Was ist eigentlich mit David? Ich habe euch schon eine Weile nicht mehr zusammen gesehen.”
“Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir uns getrennt haben.”
“Wahrscheinlich?” rief Liz. Sie hatte uns einander vorgestellt.
Ich zuckte nur mit den Schultern. “Wir haben uns Anfang Mai gestritten und reden seitdem nicht mehr miteinander.”
“Wirklich?” Liz konnte es nicht glauben.
“Ja, wirklich.”
“Hmm, das hat ja nicht lange gehalten. Waren das ganze zwei Monate?” Liz spielte auf meine üblicherweise kurzen Beziehungskisten an.
“Drei Monate. Er weiß auch noch nichts davon, dass ich nach Botswana fliegen will. Es sei denn jemand hat es ihm erzählt.”
“Du hast ihm noch nichts davon gesagt?”
“Nein, wozu denn?”
“Willst du darüber reden - über David?” Diane sah traurig drein. Sie fühlte mit.
“Nein, eigentlich nicht. Vielleicht sollte ich ihn aber anrufen. Es ist wohl an der Zeit uns mal auszusprechen.” Hmm, warum auch nicht?
“Gute Idee —”
“Will noch jemand Tee?” fragte Diane sanft.
Ich machte mich bald auf den Weg und fühlte mich unverstanden.
Am Nachmittag hatte ich mich dann mit David zur Aussprache im ‘Jesus Green’ getroffen. Reinen Tisch machen.
Der Park war voller Sonnenanbeter, die das schöne Wetter genossen. Ich erzählte David von Claires Verschwinden und er warf mir einen Hab’s-ja-gleich-gewusst Blick zu. Seufz.
“Ich zähle dann anscheinend überhaupt nicht mehr?” Er warf einen flachen Kieselstein in den See. Der Kiesel hüpfte ein paarmal übers Wasser, bevor er unterging.
“David, nimm’s mir bitte nicht übel. Du musst das doch verstehen.”
“Ich dachte wir könnten’s nochmal miteinander versuchen.”
“Wozu?”
Hatte er nicht mitbekommen, wie lauwarm unsere Gefühle waren? Hüpf, hüpf, hüpf. Noch ein Kiesel sprang übers Wasser und versank.
“Verdiene ich nicht noch eine Chance?”
“David, ich glaube wir verschwenden unsere Zeit miteinander.”
“Puh, vielen Dank auch.” Er kniff die Augen zusammen und sah seinem Kiesel hinterher.
“So hatte ich das nicht gemeint.”
“Doch, hast du.”
Wir stritten uns noch eine Weile auf diese sinnlose, wiederkäuende Art so vieler Paare, die einfach nicht zusammenpassen. Zum Schluss einigten wir uns immerhin, dass wir uns nicht einigen konnten. Mehr gab es nicht zu sagen.
Tonys recht kurzer Brief kam dann kurz vor der Veranstaltung in Heffer’s Buchladen an (oh, hätten wir damals doch schon E-Mail gehabt!).
Tony machte sich schreckliche Vorwürfe. Er meinte, er hätte Claire nie allein fahren lassen dürfen; dachte, sie wäre sicher. Darüber war ich schon lange weg. Er wollte, dass ich ihn im Hotel in Palapye anrief. Das Dorf, in dem er jetzt als Lehrer arbeitete. Wie sprach man das eigentlich aus? Palapye.
Tony hatte kein eigenes Telefon. Anscheinend hatte niemand in Palapye ein eigenes Telefon. Er hatte den Anruf für 19:00 Uhr am Freitag vorgebucht. Man musste Anrufe vorbuchen!
Zum Glück war der Brief noch vor Freitag angekommen. Tony würde mich sicher verstehen. Ich konnte es kaum abwarten mit ihm zu sprechen.
Wir sprachen wie verabredet am Freitag und danach ging ich zu Heffer’s Buchladen. Meine Eltern waren schon da. Der neue Roman ‘Talk to the Wind’ von Frederick Humphrey wurde vorgestellt. Frederick Humphrey war ein berühmter Schriftsteller - und er war mein Großvater.
Der Text auf dem Umschlag versprach einen aufregenden Kriminalroman vor dem Hintergrund Kenias der zwanziger Jahren. ‘Furcht verbreitet sich in der dekadenten Kolonialgesellschaft Nairobis, als...’
Gewöhnlich war der Umschlag alles was ich von Grandpas Büchern las. Ich wollte seine Gefühle nicht verletzen. Vielleicht mochte ich sein Buch ja nicht. Grandpas Foto lächelte mich an. Er hatte klassische Züge, volles, graues Haar und sah gut aus für 72. Im Moment saß Grandpa im Laden drinnen hinter einem Tisch und signierte Bücher.
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