„Ja, was denn nun?“ Der junge Mann von Rhing-Gold fixierte Möhre aufmerksam. In einem augenblicklichen Anfall von Schwachsinn antwortete dieser:
„Ich schreibe über Sex. Ich denke mir Geschichten aus, kurze, lange, manchmal wird es ein Roman, dann schreibe ich Drehbücher für Sexfilme und bediene die Werbebranche mit diesem oder jenem Slogan, der eindeutig zweideutig ist. Ich bin dafür bekannt.“ Nun war es heraus.
„Ja, Mann!“, rief der Angestellte aus, und eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn, „warum sagen Sie das denn nicht gleich? Lassen mich hier wulachen wie einen Verrückten, ganze Listen durchkämmen, und dann sagen Sie, dass Sie W-Vorlagen herstellen können. Mann!“ Der Schriftsteller war etwas irritiert. Er wusste, dass normale Bundesbürger erschreckt auf den Inhalt seiner Schreiberei reagierten, aber diesen freizügigen Ausbruch bei einem relativ so jungen Mann hielt er denn doch für übertrieben. Der Angestellte regte sich langsam ab und kam zur Sache zurück. Er legte den Stapel Papiere beiseite und wählte aus der zweiten Box auf seinem Schreibtisch eine CD, die er in den Computer lud.
„So“, sagte er, „dann wollen wir mal. Ich kann Ihnen eine ganze Reihe von Shows nennen, die in Frage kommen. Nicht alle deutschlandweit, auch regionale, aber die sind ja über Satellit mindestens europaweit zu empfangen. Es geht nicht immer so simpel um Sex, etwas schlauer schon. Einmal steht der eine Aspekt im Vordergrund, dann ein anderer. Sie müssen sich ganz klar daran halten. Abweichungen werden nicht geduldet. Wenn Sie das nicht können, ist es aus.“ Der Schriftsteller lehnte sich in seinem Sessel zurück, er wusste nicht, wie ihm geschah. War er etwa engagiert?
„Ja, aber das ist noch nicht alles“, hörte Möhre wie von fern, „ich kann Ihnen noch Beraterverträge anbieten. Und natürlich Verträge als Autor bei der Themenfindung. Herr Möhre“, der junge Mann redete ihn zum ersten Mal an diesem Nachmittag mit Namen an, „Herr Möhre, Sie sind eine Goldgrube.“ Der junge Mann lachte ihn an, und ein Virus von ihm sprang zu seinem Besucher hinüber.
„Übrigens heiße ich Wolf Müller. Für Sie Wolf.“ Er reichte Möhre die Hand. Wie im Reflex reichte auch dieser ihm die Hand, ein kurzes Schütteln und Kopfnicken.
„Das gibt Provisionen für uns, wissen Sie, richtig Schotter. Wenn Sie bei uns unterschreiben, Herr Möhre, mach ich Ihnen die Frühlingsrolle!“ Der junge Mann beugte sich vor, klopfte seinem unerwartet interessanten Gast freundschaftlich auf die Schulter und sagte:
„Nehmen Sie es nicht so schwer.“
„Ich wollte doch nicht mehr.“
„Ach, kommen Sie. Sie müssen nichts Neues machen. Sie schöpfen ausschließlich aus Ihrem Fundus. Wissen Sie, die Leute sind eigentlich bescheiden. Ein Teil unserer Klientel will nichts mehr als immer nur dasselbe. Und zwar immer wieder. Jeden Tag tun sie so, als müssten sie es neu erfinden.“
„Das ödet mich ja so an!“
„Ach, Herr Möhre, wenn Sie es verstehen, ziehen Sie doch Kapital daraus. Es kommt nur auf Ihre Haltung an. Es ist doch für Sie Routine. Alles wird mal zur Routine, glauben Sie mir. Nun?“ Möhre war überrascht, was dieser Wolf da so von sich gab. Klug war er. Und er hatte offenbar mehr Realitätssinn als er, der wohl doppelt so alt war.
„Vielleicht haben Sie angefangen über Sex zu schreiben, als Sex noch nicht gesellschaftsfähig war.“ Möhre musste husten. Offenbar las der junge Mann in ihm wie in einem Buch.
„Machen Sie sich frei davon. Heute wird Gangbang-Sex den Grundschülern beigebracht und ist nicht nur gesellschaftsfähig, für die Medienschaffenden ist er sogar eine Quelle des Wohlstands geworden.“
‚Wie für die Zuhälter‘, dachte Möhre. Wolf Müller lud eine andere Disc in den Computer und tippte Möhres Namen ein.
„Herr Möhre, ich habe mir hier ein Vertragsformular auf den Schirm geholt. Wir können es danach gleich ausdrucken.“
„Vielleicht doch nicht so schnell“, stoppte er den jungen Mann.
„Kein Problem, Sie können es sich ja immer noch überlegen. Sie müssen nicht unbedingt heute unterschreiben. Erst sage ich Ihnen noch, was es dafür gibt.“ Der junge Mann machte eine Pause.
„Also“, fuhr er fort, während er die Tastatur des Computers näher zu sich schob, „Sie kriegen natürlich nur ein Honorar, wenn Sie für eine Sendung arbeiten.“ Tippen.
„Neben dem Honorar gibt es im dritten Stock hier ein größeres Büro mit einigen Arbeitsplätzen für freie Mitarbeiter, das von einer Sekretärin betreut wird.“ Er wandte sich kurz zu Möhre:
„Dort können Sie ungestört arbeiten.“ Tippen.
„Mit diesem Arbeitsplatz ist auch eine Pauschale für private Telefongespräche verbunden.“ Tippen.
„Dann gibt es eine Pauschale für Besuche von Lokalen. Wissen Sie, Sie müssen sich ja auf dem Laufenden halten und daher gehört es zur Ausstattung dieses Arbeitsplatzes, dass Sie einschlägige Lokale besuchen, um sich neue Ideen zu holen.“ Tippen.
„Ebenso können Sie Dienstreisen abrechnen, wenn Sie Recherchen in Hamburg auf der Reeperbahn machen oder in Berlin.“ Tippen.
„Dann können Sie unseren Fuhrpark benutzen. Wenn Sie ein Auto brauchen, dann melden Sie das an.“ Tippen.
„Sie kriegen ebenso Freikarten für alle Veranstaltungen der Sender bzw. für Veranstaltungen, an denen die Sender beteiligt sind, wie Medien-Preisverleihungen und so weiter.“ Tippen.
„Sie erhalten einen Ausweis, der Sie berechtigt, Studios und Produktionsräume der Sender zu betreten, selbstverständlich auch die Kantinen.“ Tippen.
„Über die Inanspruchnahme von Sonderurlaub und anderen freien Tagen sowie Überstundenvergütung erhalten Sie auf einer dem Vertrag beiliegenden Anlage Auskunft.“ Tippen.
„Wenn Sie Wert darauf legen, können wir Sie in die ‚Liste zum Frühstück mit dem Geschäftsführer‘ aufnehmen. Sollte sonst noch etwas sein, können wir über alles reden“. Der junge Mann hatte offenbar den Befehl zum Drucken gegeben, denn der Drucker ratterte nun leise und gab ein paar Blätter aus.
Herr Möhre hatte in den letzten Minuten, wo jener Wolf Müller den Computer bedient und gesprochen hatte, die Gelegenheit genutzt, durch eine Metamorphose zu gehen. Erst hatte sich sein zusammen gesunkener Körper aufgerichtet, dann hatten sich seine Muskeln gestrafft, er würde nun schlanker und größer wirken, dann hatte er seine Vergangenheit abgestreift: Nie mehr billige Hotels und nie mehr noch billigere Studios, und als Wolf Müller beim Ausweis angelangt war, war Herr Möhre nur noch dynamische Gegenwart mit noch dynamischerer Zukunft. Selbstverständlich würde er den Vertrag unterschreiben. Aber nur, wenn die Zahlen stimmten. Er würde das kurz überschlagen und mit seinem Rechtsanwalt bereden, ob er sich nicht noch – im Falle, er würde doch aussteigen wollen – eine Summe als Abfindung ausbedingen sollte, vielleicht ein Jahresgehalt oder ähnlich. Man hatte ihm ja das Reden angeboten, und er würde das zu nutzen verstehen. Er dachte nun nicht mehr daran, dass es Schwachsinn gewesen war, sich zu öffnen. Nein, er hatte sehr viel eher Realitätssinn bewiesen.
Als ihn Wolf Müller zum Schluss fragte, was ihn am meisten überzeugt hätte, nun doch weiter zu machen, da sagte er, dass es das Angebot gewesen wäre, mit dem Geschäftsführer zu frühstücken. Da lachte Wolf Müller und sagte:
„Ja, das überzeugt die meisten.“
Ich war - wie Herr Möhre – nach meinem Umzug von Mainz nach Kölle auch auf der Suche nach einem Job bzw. nach Jobs als freie Mitarbeiterin mit Beiträgen für den Hörfunk, Vorschlägen für TV-Sendungen oder Assistenz und andererseits für Leerzeiten als Komparse und Statist bei Film und Theater. Da war ich in Kölle am Rhing durchaus richtig mit seinen vielfältigen Möglichkeiten, dem R-Sender, mehreren Privatsendern im Funk- und TV-Bereich sowie großen Hallen für Talk- und Spielshows im Umland, und Filmproduktionsstätten vor allem in Hirtentornister, einem südlichen Vorort. Diese Konstellation versprach beruflich eine längere Verweildauer für mich zu werden und sollte mir privat auch Chancen bieten können.
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