Von den ihrem morgendlichen Sitzplatz aus beobachtete Klara nunmehr täglich den fortschreitenden Austrieb der Kastanie. Die späten Apriltage waren ungewöhnlich warm, Mutter und Tobias besuchten sie bereits seit mehreren Tagen in kurzärmligen Oberteilen. In Klara wuchs das Verlangen nach dem Duft des Frühlings und dem Trällern der Vögel, niemals offene Fenster und die Klimaanlage ließen keinerlei Eindrücke zu. Sie versuchte sich Erinnerungen aus dem letzten Frühling ins Gedächtnis zu rufen. Das kräftige Vogelzwitschern, wenn sie frühmorgens die Wohnung in Richtung Arbeit verlassen hatte. Die Amseln allerorts auf den Rasenflächen wie sie hochaufgerichtet Ausschau nach Regenwürmern hielten oder sich laut zeternd gegenseitig das Revier streitig machten, üppige Krokusrabatte auf den Straßeninseln, später zitronengelb leuchtend die Narzissen, der erste dampfende Kaffee im Freien in der noch kaum wärmespendenden Frühlingssonne, die verschwenderische, zartrosa Blüte der Blutpflaumen in den Hamburger Parkanlagen an ihren Wochenendstreifzügen. Ferner erfasste sie zunehmend die Sehnsucht nach dem Meer. In der Nähe der dänischen Grenze an der Schlei, einem tief ins Land eindringenden Meeresarm der Ostsee, aufgewachsen, war das Meer in ihren Jugendjahren immer gegenwärtig gewesen. Erst zum Studium hatte es sie in die Stadt gezogen. Gedanken an gemeinsame Segeltörns mit ihrem Vater in der Förde in Frühlings- und Sommermonaten, Erinnerungen an Spaziergänge an der offenen Ostsee im Hochsommer, wenn das Meer einem glatten Spiegel glich, im Herbst und Winter, wenn sein Tosen alles einnahm und der peitschende Wind Salz auf den Lippen hinterließ. Zuweilen drängte sich zwischen diese schönen Erinnerungen Finsteres. Die Frage nach dem Warum begann an ihr zu nagen, nun wo sie wieder in der Lage war, klare Gedanken zu fassen. Warum diese plötzliche Erkrankung ihres Herzens? Warum gerade bei ihr, die doch weder besonders ungesund gelebt, noch jemals Herzbeschwerden gehabt hatte? Ja, warum überhaupt ausgerechnet sie mit ihren zweiunddreißig Jahren? Es gibt darauf keine Antwort. Immer wieder suchte sie sich dies selbst zu erklären, immer wieder suchte sie sich die Aussagen der behandelnden Ärzte ins Gedächtnis zu rufen. Eine Erkrankung des Herzmuskels, wie sie sie erlitten hatte, konnte von Viren oder Bakterien ausgelöst werden, die jedoch im Nachhinein kaum mehr nachweisbar waren, hatte ihr allen voran der weißhaarige Oberarzt erklärt. Ein verschleppter grippaler Infekt mochte der Auslöser für ihre Erkrankung gewesen sein, eindeutig belegen würde man dies jedoch letztendlich nie können. In ihrem Falle war die Herzmuskelentzündung in einer besonders schwerwiegenden Form verlaufen, da sie über geraume Zeit unerkannt geblieben war. Soweit ihr Pech. Tatsächlich konnte sie sich aber sehr glücklich schätzen, noch am Leben zu sein. Die Überlebensquote in ihrem Fall, wo das Herz unter Reanimationsbedingungen mit Hilfe der eingebauten Apparatur hatte entlastet werden müssen, war extrem niedrig. Du lebst, du hast ein neues Leben geschenkt bekommen, sagte sich Klara in jenen Momenten der Verlorenheit, in ihrem Rollstuhl am Fenster des Krankenzimmers, reglos, den Blick aus dem Fenster gerichtet, außerstande durch die lautlos fließenden Tränen etwas zu sehen.
Guten Morgen Klara , riss sie eines Morgens die frische Stimme von Judith aus ihren Grübeleien. Klara kehrte ihren Blick vom Fenster ab und versuchte ein Lächeln und hob matt zum Gruß eine Hand. Judith musterte sie einen momentlang still, dann strich sie ihr sanft über den Kopf, als wolle sie damit Klaras Traurigkeit wegwischen. Ich habe eine Überraschung für dich , fuhr sie fort. Ich habe heute Anweisung von ganz oben bekommen, mir besonders viel Zeit für dich zunehmen. Sie reckte einen Zeigefinger in Richtung Decke und lächelte aufmunternd. Es war wohl nicht der liebe Gott gemeint, sondern der weißhaarige Stationsarzt, dachte Klara und trocknete sich die Augen. Ich packe dich heute in einen Rollstuhl und wir machen eine Spazierrundfahrt übers Klinikgelände. Dann kannst du endlich mal Frühlingsluft schnuppern. Bei der Cafeteria gibt es eine schöne Wiese, wo wir Gehen üben können.. Das ist doch eine Abwechslung zum Krankenhausflur, meinst du nicht? Klara nickte, ihre Gesichtszüge entspannten sich. Fortan wartete sie ungeduldig in ihrem Sessel bis Judith noch zuvor anstehende Aufgaben verrichtet hatte. Schließlich kehrte diese mit einem Rollstuhl sowie mehreren Decken zurück. In mühsam kleinen Schritten zog Klara mit Judiths Hilfe einige wärmende Kleidungsstücke über ihren Pyjama, weiterhin fehlte ihr die Kraft in Armen und Beinen, um dies alleine zu bewerkstelligen. Eingewickelt in dicken Decken verließ sie samt Rollstuhl endlich die Station. Nach der Fahrt mit dem Aufzug vier Stockwerke abwärts, ging es in flottem Tempo schier endlos lange, weiße Flure mit grauem Linoleumboden entlang. Judith schien wirklich stark zu sein, so zügig wie sie den Rollstuhl durch die Gänge manövrierte, wahrscheinlich musste man das wohl auch sein als Physiotherapeut im Krankenhaus. Beim Austritt ins Freie zunächst grauer Asphalt und Ausblick auf angrenzende Klinikgebäude, modern und funktional. Klara war seit ihrem Zuzug nach Hamburg vor mehr denn einem Jahrzehnt nur ein einziges Mal auf dem Universitätsklinikgelände zu Besuch einer Freundin gewesen. Damals hatte sie Schwierigkeiten gehabt, auf Anhieb die richtige Station unter den unzähligen Gebäuden zu finden. Ich habe diesen Seitenausgang gewählt, damit wir zunächst eine kleine Runde drehen können, bevor wir die Wiese zum Üben aufsuchen , hörte Klara Judith von hinten schnaufend erklären, ohne die rasche Fahrt zu reduzieren. Ist dir denn warm genug? Klara nickte. Ausgiebig betrachtete sie die an ihr vorbeiziehende Umgebung. So viele Menschen hatte sie seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen. Klinikpersonal, in Weiß, in Blau, darunter viele sehr junge Gesichter, vielleicht Auszubildende oder Studenten der ersten Semester. Menschen mit Taschen und Tüten bepackt, womöglich mit irgendwelchen Habseligkeiten für einen Klinikinsassen. Patienten, mit Verbänden, auf Krücken oder im Rollstuhl. Krankentransporte, mit dem Ein- und Ausladen von Patienten beschäftigt, reges Ein- und Ausgehen am Supermarkt, viel Trubel vor dem Bäckerladen und erst recht vor der Cafeteria. Das Klinikgelände glich einer kleinen Stadt mitten in Hamburg. Möchtest du denn eine Tasse Kaffee? , fragte Judith als sie an der Cafeteria vor dem Klinikhaupteingang angekommen waren. Die Menschen standen und saßen hier teils mit dampfenden Tassen, teils rauchend in der mittäglichen Frühlingssonne. Klaras Wangen wurden warm, sie schob die Decken von ihren Beinen. Kaffee, dachte sie, tatsächlich hatte sie während ihres bisherigen Klinikaufenthalts keine einzige Tasse angerührt. In Fällen von Krankheit und Erkältung verspürte sie sonderlicher Weise nie Lust auf dieses Getränk, es widerte sie geradezu an, wo sie sonst regelrecht süchtig danach war. Sie entsann sich seines Geschmacks, mit einem Mal wirkte er nicht mehr abstoßend auf sie. Langsam nickte sie Judith zu. Kurz darauf drückte ihr diese einen warmen Pappbecher in die Hand. Schwarz und ungesüßt schmeckte der Kaffee unvermutet gut. Vielleicht würde doch wieder alles wie früher werden, ging es Klara durch den Sinn, während sie bedächtig einen Schluck nach dem anderen nahm und sich an den Sonnenstrahlen erfreute.
Fortan wurde die Cafeteria mit anschließenden Gehübungen auf dem Rasen zum täglichen Ausflugsziel von Klara und Tobias. Ein lebelang hatte Klara sich gerne bewegt, gerne Sport getrieben. Joggen und Yoga gehörten zu ihrer wöchentlichen Routine. Immer wieder war sie nun erstaunt darüber, wieviel Mühe ihr lediglich aufrechtes Gehen bereitete. Das war schon einmal der Vorgeschmack dafür, wie man sich mit ungefähr achtzig oder neunzig fühlen musste, mutmaßte sie sich des Öfteren nicht ohne Galgenhumor, wenn sie wieder einmal langsam ein Bein vor das andere setzte, steif im ganzen Oberkörper, ohne Spur von Leichtigkeit. Wo war ihr fließender Gang von einst geblieben? Seit wenigen Tagen hatten Judith und sie mit dem Treppensteigen begonnen. Fünf Stufen versetzten Klara regelrecht in Panik. Zwei vermochte sie mittlerweile alleine zu nehmen. Bei den verbleibenden hob Judith geduldig das jeweilige Bein an, so dass es Klara auf die nächsthöhere Stufe setzen konnte, dann unterstützte sie Klara dabei, ihren schlaffen Körper mit Hilfe des Treppengeländes nachzuziehen. Wie konnte nur der eigene Körper so eine Last sein? Hoffentlich würde bald der Augenblick kommen, ab dem das Treppensteigen plötzlich wieder ganz von alleine ging. Es würde diesen Augenblick geben, Judith hatte es ihr versichert. Bis dahin galt es stetig weiter zu trainieren. Mittlerweile übte Klara täglich auch alleine. Zusätzlich zu Judiths und Tobias Unterstützung, wanderte sie eine oder zwei Runden am Stück langsam über den Stationsflur, anfänglich mit Rollator, um im Falle mangelnder Kraft Halt zu finden, dann freihändig. Die Schwestern und Pfleger, nickten ihr freundlich zu oder richteten ein paar Worte an sie, wenn sie ihr begegneten. Nach rund sechs Wochen war sie mit allen bekannt. Eines Morgens, als Klara erneut ihre Runde über den weißen Stationsflur an den Krankenzimmern vorbei drehte, den Blick nach vorne gerichtet, stets bemüht den Anblick der üblicherweise frisch operierten Patienten umgeben von Schläuchen, Kabeln und Apparaturen durch die halboffenen Zimmertüren auszublenden, trat der weißhaarige Oberarzt aus einem Patientenzimmer. Unweigerlich machte es sie verlegen, ihm in ihrem hellblauen Morgenmantel, immer noch wie sie fand, kraftlos und ungelenk, nicht wie eine normale junge Frau, entgegen zu gehen. Er hatte sich, mit den Händen in den Taschen mitten in den Flur gestellt und seine wasserblauen Augen musterten sie neugierig über die Brillengläser hinweg bei ihren Gehversuchen. Seine Lippen formten sich zu einem Lächeln. Das geht doch schon richtig gut , meinte er, kaum dass sie vor ihm stand. Ich denke, du kannst in den nächsten Tagen auf die Normalstation. Und heute ziehen wir endlich dieses Ding raus, fügte er hinzu, während er mit einer Hand auf die Kanüle an ihrem Hals zeigte. Die brauchst du nicht mehr und wenn das Löchlein zugewachsen ist, klappt es wieder mit dem Sprechen.
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