Ob er so lange draufhacken sollte, bis sie zerbrach? Das wäre eine Möglichkeit, aber keine Lösung, würde sein Mathelehrer sagen. Außerdem könnte er sie dann nicht mehr benutzen. Und wer weiß, wozu man sie noch brauchen konnte. Patte öffnete den Kleiderschrank und stopfte die Kiste ganz nach unten, tief unter die Eishockeyklamotten, die er ganz sicher nie mehr tragen würde. Dort würde seine Mutter sie nicht finden. Er legte sich wieder aufs Bett und angelte auf dem Regalbrett nach seinem Buch.
Harry Potter.
Höchst spannend.
Aber noch spannender war das Lesezeichen.
Er öffnete das Buch wie in Zeitlupe. Ein Foto segelte auf seine Brust. Er legte die Hand darauf, zögerte kurz und drehte es ganz langsam um. Vierundzwanzig Gesichter lachten in die Kamera. Eines strahlte ganz besonders. Rote Locken. Ein blaues Haarband.
Nina.
Ihr Lachen fiel aus dem Papier heraus direkt auf Patte. Er fühlte, wie er rot wurde. Schnell legte er das Foto ins Buch zurück. Für einen kurzen Moment schlich ein Bild in seinen Kopf, wie er mit Nina in einem Baumhaus saß. Vielleicht in der Eiche an der Holzmann-Mauer. Am liebsten hätte er sofort drauflos gebaut. Doch er musste Mama beim Abendessen helfen. Lasagne. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.
Er stand auf und zog eine Schublade unter dem Bett hervor. Darin lag das Seil, das er vor zwei Wochen am Waldrand gefunden hatte. Es war lang und fest und genau richtig für Äste, Zweige und Baumhäuser.
„Patrick?“ Mama rief nach ihm.
Er warf das Seil zurück und schob die Schublade unters Bett.
„Patrick?“ Ihre Schritte kamen näher.
„Ja-ha!“
„Wir fangen jetzt an. Thomas kommt um sechs.“ Jetzt stand sie vor der Zimmertür. Mist. Er hatte gehofft, der Typ würde absagen. Pattes Magen ballte sich zur Faust, als er die Tür öffnete.
„Er bringt heute Jule mit.“
„Jule?“ Cool! Der Typ hatte einen Hund! Immerhin etwas!
„Seine Tochter. Sie ist in deinem Alter.“
Patte starrte seine Mutter an, als hätte sie ihm vorgeschlagen, die Lasagne mit Wirsingpampe zu füllen. Ein Thomas war schon genug. Jetzt kam noch eine Jule dazu.
Mama strich ihm über die Schulter. „Schau nicht so. Sie ist nett. Wirst schon sehen.“
„Hat er einen Hund?“
Mama sah überrascht aus. „Nein. Warum?“
„Ach. Nur so.“
Er drehte Mama den Rücken zu und sprang die Treppe hinunter. Vielleicht würde er die Lasagne versalzen. Vielleicht würde nach jedem Bissen rülpsen. Eines würde er nicht sein: nett.
Auf dem Küchentisch lagen Tomaten wie Billardkugeln verstreut. Patte nahm eine ins Visier. Sein Finger war der Queue und der Spalt zwischen Ölflasche und Zwiebeln das Loch. Die Tomate schoss direkt auf die Flasche, die mit einem Knall umfiel. Ein Ölsee breitete sich auf dem Tisch aus und tröpfelte auf den Boden.
„Patrick!“ Mama hielt ihm eine Küchenrolle hin.
Er wischte im Öl herum und warf die zerknüllten Tücher im hohen Bogen in den Papierkorb. „Tor!“
In der großen Pfanne brutzelten Zwiebeln und Hackfleisch. Pattes Magen knurrte.
„Mama?“ Er öffnete die Packung Lasagneblätter und schüttete den Inhalt quer über den Tisch. Seine Mutter schien ihn nicht zu hören.
„Mama?“
„Hm?“
„Sag mal … Thomas … kommt der jetzt öfter?“
„Das weiß ich noch nicht, Patte. Ich denke aber schon.“ Sie schaltete die Herdplatte aus.
„Und wann weißt du es?“
„Demnächst. Bald. Wir kennen uns noch nicht so gut.“
Das klang kompliziert. Patte wünschte sich, mit Mama allein zu sein. Sie schien es zu merken.
„Patrick, du … sei einfach nett zu den beiden, ja? Jule hat keine Mutter mehr. Armes Kind.“
Patte wollte erwidern, dass er keinen Vater hatte. Oder ihn zumindest nicht kannte. Doch er schwieg. Wenn er irgendetwas auf der Welt ganz bestimmt nicht sein wollte, dann ein armes Kind.
Als die Lasagne im Ofen war, verschwand Mama oben im Bad. Patte schaltete den Fernseher an. Doch mit seinen Gedanken war er weit fort. Er dachte an das Holzmann-Haus mit seinen einsamen Zimmern. An den Dschungelgarten. An das Ninalachen auf dem Klassenfoto. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht merkte, wie die Zeit verging.
Erst als Mama in seinen Haaren wuschelte, tauchte er wieder auf. Sie trug ein neues Kleid und roch nach Parfum. Ihr Typ hatte ein kariertes Hemd an. Sein Arm lag auf Mamas Schulter. Neben ihm stand ein dünnes Mädchen mit dünnen Zöpfen. Es streckte Patte die Hand hin. Patte berührte sie so kurz wie möglich.
„Das ist also Jule. Jule, das ist Patrick.“ Mama kicherte. Jule auch. Mama sah ganz anders aus als sonst. Nicht nur das Kleid. Auch ihre Augen waren anders. Dunkel und fremd.
Patte hatte auf einmal keinen Hunger mehr. Es war sowieso viel zu warm für Lasagne. Seine Hand in der Hosentasche ballte sich zur Faust. Er würde den ganzen Abend nichts sagen. Gar nichts.
Mama sah ihn an. „Holst du den Salat aus der Küche?“ Patte lief sofort los. Als er an den Esstisch zurückkam, saß Jule neben seinem Platz. Kaum hatte er sich hingesetzt, fing sie an zu quasseln.
„Was machst du in den Ferien am liebsten?“
Schweigen, dachte er und starrte auf die Lasagne, die auf seinem Teller lag und fabelhaft gut roch. Eigentlich hatte er doch Hunger. Und ein voller Mund war der beste Grund, nichts zu sagen.
„Also, ich lese am liebsten Bücher. Pferdebücher. Und du? Welche Bücher magst du?“ Jule sah ihn neugierig an. Patte hasste blöde Fragen. Und er hasste es, angeglotzt zu werden. Am meisten hasste er beides, wenn er aß.
Er schob einen Berg Lasagne in den Mund, drehte das Gesicht zu Jule und starrte sie mit prall gefüllten Wangen an. Jule senkte den Blick und schwieg.
Endlich.
Jetzt konnte Patte in Ruhe darüber nachdenken, wie er auf der Eiche saß und mit Nina in den Rotwald hinüber sah. Vielleicht würden sie gemeinsam das alte Haus erkunden. Millimeter für Millimeter. Vielleicht fanden sie noch mehr Kisten. Dann würden sie gemeinsam ein Kistenreich gründen.
„Patrick?“ Drei Gesichter sahen ihn an.
„Hm?“
Mama runzelte die Stirn. „Du sagst ja gar nichts?“
„Ich esse.“
„Aber dein Teller ist leer.“ Jule grinste.
„Logo. Weil ich esse. Im Gegensatz zu dir.“
„Patrick!“ Mama sah ihn warnend an. „Du musst-“
Thomas fiel ihr ins Wort. „Stimmt“, sagte er. „Julchen, du musst mehr essen.“ Er sah Patte an. „Sag mal, was machst du denn so den ganzen Tag in den Ferien?“
Schon wieder diese Frage. Warum war es so wichtig, was er den ganzen Tag machte?
„Hast du Lust, mit Jule etwas zu unternehmen?“
In Pattes Fantasie breitete sich die Vorstellung aus, wie Jule Pferdegeschichten vorlas. Während das Karohemd auf dem Sofa saß und Mamas Schultern anfasste. Ihm war plötzlich ganz heiß. Am liebsten hätte er „Nein! Scheiße!“ geschrien.
Stattdessen sagte er langsam: „Ich geh am liebsten angeln. Da steht man stundenlang in der Sonne und wird von Mücken gestochen.“ Er drehte sein Gesicht zu Jule. „Das macht dir bestimmt nichts aus?“
Das Mädchen verzog die Unterlippe. Im Augenwinkel sah Patte, wie Mama ihre Stirn rieb. Das machte sie immer, bevor sie etwas Vorwurfsvolles sagte. Das Karohemd legte seine Hand auf ihre.
Mama sah Thomas an. „Sollen wir noch etwas unternehmen? Spazieren gehen? Oder Kino?“
Das Hemd stand auf. „Ein anderes Mal, Susanne. Julchen muss jetzt nach Hause.“ Er beugte sich vor und flüsterte Pattes Mutter etwas ins Ohr. Patte hörte so etwas Ähnliches wie „Zeit“ und „lassen“. Sie nickte und sah plötzlich gar nicht mehr nach Vorwurf aus.
Patte atmete auf. Als seine Mutter mit den zwei Fremdkörpern nach draußen ging, rannte er hinauf in sein Zimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Er angelte noch einmal nach seinem Buch, klappte es aber nicht auf, sondern ließ seine Hand darauf liegen. Im Halbschlaf zuckte er noch einmal hoch, weil Jule ein Pferd aus der alten Kiste hervorzauberte. Dann fiel er in traumlosen Schlaf.
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