»Sie werden bald hier sein«, sagt Jeanette, als mir die Sinne schwinden und alles im Nebel versinkt. »Dann kannst du dein Werk aus nächster Nähe bewundern.«
Mit zitternden Fingern versuche ich, den Schlüssel ins Schloss zu führen und brauche drei Anläufe, bis es mir gelingt. Ich stolpere in den Flur, lasse die Tür hinter mir zufallen und sinke zu Boden. Was bei allen Höllen ist da draußen gerade geschehen? Der Riss hat die Menschen verschlungen, hat ihnen das Fleisch von den Knochen gerissen, sie zu nichts als grauem Staub gemacht. Dutzende, hunderte, einfach so, binnen eines Wimpernschlags. Der Bus wurde in den Spalt gezogen, zerquetscht wie ein Spielzeugauto. Und dann war da dieses Ding, stand dort, inmitten des Mahlstroms, unberührt von der brachialen Kraft, die alles andere zermalmte. Habe ich mir das nur eingebildet, diese Silhouette eines Menschen, der aus Staub gemacht schien?
Irgendwann schaffe ich es, mich aufzuraffen und bemerke den Zettel, der direkt vor der Tür liegt. Hat ihn jemand darunter durchgeschoben? Ich greife danach und lese die handgeschriebenen Worte.
Du weißt wo. Dort ist es sicher. Triff mich da. Ich warte zwei Tage. J.
Ich starre in das kalte Licht einer einzelnen Glühbirne. Ein Kellerraum, wie es aussieht. Kahle Wände, keine Fenster. Mein Schädel dröhnt. Was auch immer Jeanette mir ins Glas gemischt hat, es hat mich richtig umgehauen. Jeder einzelne Knochen in meinem Körper schmerzt, als wäre jemand darauf herumgesprungen. Ich drehe den Kopf, soweit die stechenden Schmerzen es zulassen, versuche mich zu bewegen, doch es geht nicht. Ich sitze auf einem Stuhl, meine Arme und Beine sind daran gefesselt.
»Jeanette, was soll der Unsinn?«, rufe ich, während ich vergeblich versuche aufzustehen. Irgendetwas bewegt sich hinter mir. »Hey, bist du das? Was, zum Teufel, machst du?«
»Wenn die Welt schon untergeht, möchte ich wenigstens dabei zusehen, wie es den erwischt, der schuld daran ist«, sagt Jeanette hinter mir, als plötzlich gleißendes Licht den Raum erfüllt. Was in aller Welt macht sie da? Panik ergreift mich. Ich versuche mich umzudrehen, stemme mich so gut es geht vom Boden hoch, komme aber nur langsam voran.
»Es wird nur wenige Minuten dauern«, sagt sie fast triumphierend. »Ich habe die Frequenzen des Emitters nachgebildet. Das wird ihnen den direkten Weg zu dir weisen.«
»Was meinst du damit, dass ich schuld daran bin?«, frage ich aufgewühlt und schaffe es endlich, einen Blick auf das zu werfen, was Jeanette hier im Keller versteckt hat. Sie hat Geräte aufgebaut, ich sehe Resonatoren und etwas, das wie eine improvisierte Version des Emitters aussieht. Sie ist wahnsinnig. Wahrscheinlich hat der Blick durch den ersten Riss sie überschnappen lassen. Ich muss hier raus, bevor sie ihr Werk vollenden kann.
»Du hast als Letzter die Frequenzen und Energieniveaus angepasst«, sagt sie und jetzt bin ich sicher, dass es blanker Hass ist, der in ihrer Stimme liegt. »Ich habe die Aufzeichnungen gesehen. Nachdem der erste Riss im Labor entstanden war, bin ich noch mal zurück gekommen. Ich wollte herausfinden, wie das passieren konnte. Du hast vor meinem Testlauf die Parameter geändert.« Sie kommt langsam auf mich zu, während sie spricht. »Du wolltest, dass das passiert.«
»Nein, ich …«, setze ich an, noch immer halb umnachtet von der Betäubung. Jeanette schlägt mir ins Gesicht, kraftvoll und rücksichtslos. Der Stuhl kippt nach hinten, mein Kopf prallt hart auf dem Boden auf, für einen Moment wird mir schwarz vor Augen.
»Leugnen ist zwecklos«, sagt sie trocken. »Ich weiß, was ich gesehen habe. Diese Werte waren kein Zufall, du hast genau gewusst, was du tatest.«
In diesem Moment beginnt die Luft zu knistern. Ich spüre, wie sich die Haare an meinen Armen aufstellen. Mit aller verbleibenden Kraft versuche ich, aus meinen Fesseln zu entkommen. Beim Sturz muss irgendwas am Stuhl gebrochen sein, denn ich schaffe es, meine Arme zu bewegen. Es dauert eine Weile, bis ich meine Hände losmachen kann, doch Jeanette scheint wie hypnotisiert von dem entstehenden Riss, so dass sie es nicht bemerkt. Gerade als ich die Fesseln um meine Füße zu lösen beginne, blickt sie zu mir herüber und erwacht aus ihrer Starre. Sie greift nach irgendetwas, das auf der Werkbank liegt und tritt mir entgegen. Ich sehe den schweren Schraubenschlüssel in ihrer Hand und ihr Blick lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihn benutzen wird. Ich erinnere mich an etwas, greife nach hinten an meinen Gürtel und finde dort die Pistole. Früher wäre Jeanette gründlicher gewesen. Offenbar hat der Wahnsinn sie unvorsichtig werden lassen. Ich ziehe die Waffe hervor und richte sie auf ihre Brust. Hätte man mir vor einer Woche erzählt, dass ich in ein paar Tagen auf meine Kollegin schießen müsste, hätte ich gelacht. Doch das hier ist tödlicher Ernst. Jeanette sieht die Waffe, aber sie hält nicht inne, stürmt stattdessen auf mich zu. Ich drücke ab. Der Schuss dröhnt in meinen Ohren, lässt meine Sicht verschwimmen. Halb benommen sehe ich sie zur Seite fallen, der Schraubenschlüssel schlägt klirrend auf dem Boden auf. Ich lasse die Waffe fallen, löse die restlichen Fesseln und werfe einen Blick auf Jeanette. Sie ist bei Bewusstsein und presst eine Hand auf die Wunde an ihrer linken Schulter. Ein paar Zentimeter tiefer und ich hätte sie in die Lunge getroffen.
»Wie schalte ich das ab?«, schreie ich sie an.
»Es ist zu spät«, entgegnet sie, »du wirst hier sterben, wie du es verdient hast.«
Also gut, dann auf die harte Tour. Mit dem Schraubenschlüssel schlage ich auf die Apparaturen ein, wieder und wieder. Funken stieben in alle Richtungen davon, doch sonst geschieht nichts. Ich sehe keine Stromzufuhr oder etwas derartiges. Der Riss wird sich jeden Moment öffnen. Ich packe Jeanette an den Armen, schleife sie zur Treppe und versuche, sie irgendwie nach oben zu schaffen.
»Hast du bemerkt, wie Liv dich angestarrt hat?«, frage ich Cassie, als wir Arm in Arm das Arcane verlassen. »Das war richtig unheimlich. Ich dachte, sie würde dich jeden Moment anspringen.«
»Diese Wirkung habe ich auf manche Frauen«, gibt Cassie geheimnisvoll lächelnd zurück. Ich winke ein Taxi heran. Wir steigen ein und zum ersten Mal seit Stunden umgibt uns Stille. Cassie legt ihren Kopf an meine Schulter und sieht aus dem Fenster, während der Wagen sich in Bewegung setzt. Wir gleiten durch die Stadt, die ihr Nachtgewand übergestreift hat, jenes schwarze Kleid, das hier und da von aus buntem Licht gemalten Mustern verziert wird.
Plötzlich hebt Cassie den Kopf. Sie hat den Blick auf irgendetwas außerhalb des Fahrzeugs gerichtet. »Halten Sie an!«, ruft sie nach vorn. Der Fahrer hält und Cassie öffnet die Tür. Bevor ich auch nur ein Wort herausbringe, ist sie zu einem großen Bild an der Wand eines Lagerhauses auf der anderen Straßenseite gelaufen. Im Schein einer Laterne erkenne ich eine geflügelte Gestalt, die, in goldenen Schein gehüllt, auf einem Berg von Schädeln thront. Cassie steht direkt davor, der Lichtkegel der Laterne fällt von oben auf sie, in den tiefen rückseitigen Ausschnitt ihres Kleides. Sicher spielen mir meine übernächtigten Augen einen Streich, doch ich könnte schwören, dass sich das große Tattoo auf ihrem Rücken gerade bewegt hat. Es zeigt Schwingen, ähnlich denen auf dem Wandgemälde, kunstvoll gezeichnet und so detailliert, wie ich es niemals zuvor gesehen habe.
»Ist alles in Ordnung?«, frage ich und lege die Hand auf ihre Schulter. Sie zuckt zusammen, offenbar habe ich sie erschreckt. Dann legt sie ihre Hand auf meine.
»Es hat mich an etwas erinnert«, sagt sie und ist sichtlich bemüht, die Fassung zu wahren. »Etwas, das ich beinahe vergessen hatte.« Ich betrachte das Wandbild, dann fällt mein Blick auf eine Inschrift unterhalb des Schädelthrons.
Statt finstrer Nacht sind was ich fürchte
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