»Ja. Ich werde ihnen dabei helfen.«
»Nüsse zu vergraben?«, vergewisserte ich mich.
»Und wieder auszugraben.«
»Meinst du nicht, dass sie bis dahin verrottet sind? Die Nüsse?«
Simon dachte kurz nach. »Ich glaube eher, dass bis dahin Bäume daraus geworden sind«, meinte er. »Zumindest aus einigen.«
»Und diese Bäume ernähren dann eine neue Generation von roten Eichhörnchen?«
»Meinetwegen dürfen auch die schwarzen davon fressen«, erwiderte Simon mild. Ein wenig genugtuend fügte er hinzu: »Wobei sie davon rot werden würden – du verstehst, was ich meine.«
»Simon?«
»Was ist, Nathan?«
»Lass uns mit dieser blöden Eichhörnchenmetapher aufhören.«
»Aber sie ist sehr fruchtbar …«
»Lass uns einfach damit aufhören.«
Er hob die Schultern.
Eine Weile glitten wir durch die Dunkelheit. Der Motor meines neuen Autos war besser als der alte. Wir waren schneller unterwegs, leiser, und die Scheinwerfer leuchteten weiter.
Als wir an ein paar Hinweisschildern vorbeikamen, sagte Simon, und er schlug einen ganz selbstverständlichen Tonfall an: »Ich möchte, dass du dort nach links fährst.«
»Warum?«
»In der Richtung liegt eine Ortschaft.«
Ich unterließ es, blöd zu fragen, was er in einer beliebigen Ortschaft wollte. »Du suchst eine Telefonzelle, um einen Krankenwagen für den Mann zu rufen.«
»Richtig.«
»Ich glaube, er schafft es auch ohne«, erwiderte ich, und als es nötig wurde, setzte ich den Blinker nicht.
»Ich glaube, dass er es nicht schafft.«
»Und wenn schon … Was kümmert dich das?«
»Mich kümmert es«, meinte Simon. »So bin ich. Dem nächsten Hinweisschild folgst du – bitte.« Sein Gesicht war undurchdringlich, seine Stimme noch immer, als spräche er über eine Belanglosigkeit. Er bückte sich nach vorne in den Fußraum.
»Und wenn ich es nicht tue?«, erkundigte ich mich. Ich spürte eine leise Ahnung in mir aufsteigen. Den Guten, und vor allem diesem Guten konnte man eine Menge vorhalten, aber in einer Hinsicht waren sie unschlagbar: Verzweiflung in rettende Kreativität umzuwandeln. »Was wird dann passieren, Simon?«
»Wir könnten darum wetten«, schlug er vor, als er sich wieder aufrichtete. Nun war seine Miene nicht mehr undurchdringlich. Im Gegenteil: Sie ließ keine Frage unbeantwortet. Die sicher gefasste Brechstange trug auch einen Teil zu dieser Eindeutigkeit bei.
Ich hatte mich bei dem Vorbesitzer meines neuen Autos zumindest so weit zurückgehalten, dass ich ihn nur die stumpfe Seite hatte schmecken lassen. Aus Simons Händen aber blickte mich unmissverständlich die grobe Doppelspitze des Hakens an wie zwei blinde Augen. Die metallene Schlange würde sich nicht zurückhalten, auch einem Bösen ein Loch in den Schädel zu beißen. Sie war eine verbesserte Justitia, die die Waage nicht mehr nötig hatte: Vor ihr waren alle gleich.
Ruhig sprach der Gute: »Ich denke jedenfalls, dass es wehtut.«
Sascha Dinse
RISSE
Das feuchte Tuch vor meinem Mund vermag kaum den beißenden Geruch fernzuhalten, der durch das Gebäude zieht wie der Hauch des Todes. Irgendwo im Erdgeschoss hat es gebrannt, und auch wenn die Flammen mittlerweile erstickt sind, liegt doch überall brenzliger Dunst in der Luft, der in den Lungen brennt. Die Beleuchtung ist weitgehend ausgefallen, nur hier und da kündet noch ein flackerndes Licht davon, dass hier bis vor Kurzem Menschen gearbeitet, miteinander geredet und gelacht haben. Es grenzt an ein Wunder, dass überhaupt noch Reste von Elektrizität zu finden sind.
Nach dem Kollaps der öffentlichen Ordnung ist es beinahe unmöglich geworden, sich durch die Stadt zu bewegen. Die Hauptverkehrsstraßen sind blockiert mit unbrauchbaren Autos und es dauert länger als je zuvor, über Schleichwege und Nebenstraßen von einem Ende der Stadt ans andere zu gelangen. Nicht, dass es vorher ein entspannendes Vergnügen gewesen wäre, sich durch diesen Schmelztiegel aus wütenden Idioten und rücksichtslosen Arschlöchern zu kämpfen, doch jetzt ist es weitaus schlimmer. Die Straßen sind voll von Menschen in Panik, Familien auf der Flucht, die allesamt versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Fast sind sie zu beneiden, die Hoffnungsvollen, die noch immer glauben, dass in ein paar Wochen alles wieder beim Alten sein wird. Doch es gibt keine Erlösung, keine göttliche Intervention in letzter Sekunde. Sechs Tage, so heißt es, hat Gott gebraucht, um die Welt zu erschaffen. Drei Tage sind vergangen, seit sich der erste Riss geöffnet hat. Es wird kaum weitere drei dauern, bis nichts mehr von uns übrig ist.
Ich erreiche Jacobsons Büro im fünften Stock. Die Tür steht offen und durch die Fenster fällt der Feuerschein brennender Gebäude hinein, lässt Schatten an den Wänden hin und her zucken, Abbilder des Untergangs, der die einstige Metropole mehr und mehr in eine Geisterstadt verwandelt. Aus der Manteltasche fördere ich die kleine Taschenlampe zutage, die ich seit dem ersten Stromausfall im Labor stets bei mir trage. Unmengen von Papieren sind auf dem Boden verstreut, wissenschaftliche Arbeiten, Ausdrucke, Kopien. Bei unserem letzten Gespräch hatte Jacobson noch Hoffnung, dass es eine Möglichkeit gäbe, den Untergang aufzuhalten. Ich hingegen habe mich mit der Wirklichkeit abgefunden. Das ist das Ende, nicht mehr und nicht weniger. Ich weiß, dass ich es verdient habe, doch ich will es wenigstens verstehen. Nur aus diesem einen Grund bin ich hier. Es mag zynisch klingen, aber ich bin dankbar dafür, dass Mitsuko und Katie das hier nicht mehr erleben müssen.
Die Luft knistert, schwach nur, doch ich bemerke es. Mir bleibt nicht viel Zeit. Ich schalte die Taschenlampe an, stecke sie zwischen meine Zähne und hole das Brecheisen hervor. Zielstrebig gehe ich zum Schreibtisch, hebele die Schubladen auf und hoffe, darin Jacobsons Aufzeichnungen zu finden. Typisch für ihn hat er alles aufgeschrieben, ganz altmodisch mit Stift und Papier, statt es nur digital zu erfassen. Es sind die einzigen Dokumente, die uns geblieben sind, nachdem fast sämtliche Technologie unbenutzbar wurde. Hastig greife ich alles, was nach Notizen und Dokumenten aussieht, lege es auf den Tisch und finde am Boden der ersten Schublade etwas, mit dem ich hier am allerwenigsten gerechnet hätte. Ohne lange nachzudenken, stecke ich die kleine Pistole ein, es schadet sicher nicht, sich im Notfall zur Wehr setzen zu können. Die Risse sind nicht die einzige Bedrohung da draußen, Horden von marodierenden Plünderern tun ihr übriges, um den Niedergang der Stadt zu beschleunigen. In den anderen Schubladen kommen mehr Papier, ein paar Datenträger, ein Diktiergerät und dazu passende Tonbandkassetten zum Vorschein. Ich klaube alles zusammen und fülle es in einen herumstehenden Karton. Bevor ich mich davonmache, nehme ich das Foto unserer Forschungsgruppe vom Schreibtisch mit. Vielleicht ist es das Einzige, was von uns bleiben wird.
Ich muss verschwinden, bevor sich ein Riss manifestiert, sonst ergeht es mir wie Willard und Jack. Sie dachten, sie hätten eine Möglichkeit gefunden, das alles zu beenden. Ich habe beide sterben sehen, unten im Labor. Wir können nur laufen, uns verstecken und dafür sorgen, dass sie uns nicht finden. Ein Rennen gegen die Zeit, das wir verlieren werden.
Es ist auf eine grausame Weise erstaunlich, wie unwichtig all die Errungenschaften der modernen Zivilisation, all unsere geliebte Technologie, all unser Fortschritt werden, wenn es um das nackte Überleben geht. Nachdem sich die ersten Risse draußen geöffnet hatten, dauerte es nur wenige Stunden, bis Stromversorgung und Kommunikation zusammenbrachen. Unsere Kraftwerke müssen auf diese Dinger wie ein All-you-can-eat-Buffet gewirkt haben. War es anfangs noch möglich, im Radio Informationen über die Ausbreitung des Phänomens zu erhalten, brachten die elektromagnetischen Störungen der Risse schnell jegliche Übertragung zum Erliegen. Polizei und Militär stellten schmerzhaft fest, dass das, was aus den Rissen kommt, sich nicht mit Waffen bekämpfen lässt. Wie soll man töten, was nicht lebendig ist?
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