Vorwort
Michael J. Awe: DER SELTSAMKEITSLADEN
Andreas Fieberg: 5-MINUTEN-SCHICKSAL
Fernando Sorrentino: SCHULD HAT DR. MOREAU
Joachim Pack: LIFT!
Uwe Durst: FRAU GRIESE
Norbert Fiks: KURZE UNTERBRECHUNG
Amyas Northcote: BRIKETT BOTTOM
Ute Dietrich: DAS EIS
Michael Hutter: MELCHIOR GRÜN UND DAS STERNENTIER
Ellen Norten: DER MAGISCHE SCHLEIER
Gert Prokop: NULL MINUS UNENDLICH
Armin Möhle: VERBRECHEN IM 21. JAHRHUNDERT. DIE SF-KRIMINALSTORYS VON GERT PROKOP
Die Autoren
Die Herausgeber
Titelillustration
Vorwort
Liebe Freunde der Phantastik!
Die phantastische Literatur erreicht Orte, von denen manch einer gar nicht wußte, daß es sie überhaupt gibt. Diese Erkenntnis wollen wir hiermit erneut auf die Probe stellen, und zwar mit einer gesunden Mischung aus forscher Phantastik und gediegener Science Fiction. Berührungsängste sind uns unbekannt, solange es sich um eine gute Erzählung handelt, die da zum Besten gegeben wird – das ist die einzige Form des Purismus, die wir uns erlauben. Ohnehin sind Definitionshubereien angesichts fließender Genre-Grenzen müßig, zumal wenn alle Spielarten spekulativer Literatur heute unterschiedslos unter dem Label »Fantastik« oder »Fantasy« versammelt werden.
Begleiten Sie uns also auf einen weiteren Ausflug »gegen unendlich« und lassen Sie sich von unseren Autoren über Grenzen entführen, hinter denen alles möglich scheint. Diesmal dürfen Sie sich sogar auf eine längere Reise freuen, denn der Umfang unseres Magazins soll ab dieser Ausgabe weiter wachsen.
Eine gelungene Einstimmung liefert Michael J. Awe mit dem »Seltsamkeitsladen«, in dem sich Menschen lästiger Peinlichkeiten entledigen können. Sie zahlen dafür einen hohen Preis.
Im »5-Minuten-Schicksal« von Andreas Fieberg wird eine Trockenmahlzeit aus Ursache und Wirkung mit dem kochenden Wasser einer falschen Entscheidung angerührt. Was dabei herauskommt, schmeckt den Beteiligten ganz und gar nicht.
Wer dagegen für das Scheitern einer Liaison verantwortlich zu machen ist, erzählt Fernando Sorrentino in seiner hintersinnigen Geschichte »Schuld hat Dr. Moreau«. Wir hatten bereits einmal das Vergnügen, eine Geschichte dieses ungewöhnlichen Autors zu bringen, dessen Kabinettstückchen einer Verbindung von Franz Kafka und Groucho Marx entsprungen sein könnten.
Mit der folgenden Story wechseln wir den Schauplatz und verlassen die Erde: »Lift!« spielt auf Vingart, einem fremden Planeten, der von menschlichen Truppen »befriedet« wurde. Joachim Pack schildert darin die kurze, aber lehrreiche Begegnung eines irdischen Soldaten mit einem Einheimischen.
Einen doppelt- und dreifachen Boden hat Uwe Durst in seine boshafte kleine Geschichte »Frau Griese« eingezogen, in der die titelgebende Figur sich mit fremden Nachstellungen auseinandersetzen muß – oder sind es gar die eigenen?
In der »Kurzen Unterbrechung« von Norbert Fiks geht es um den Anschlag von Technologiefeinden und einer Nebenwirkung ihrer Tat – eine solide Geschichte, die die Lesererwartungen nicht enttäuscht. Der Autor leistet übrigens auch als Veranstalter des SF-Events »Hinterm Mond 2018 – 2. Tag der Science-Fiction-Literatur in Ostfriesland« einen bedeutenden Beitrag.
Unser Dank für die Geschichte »Brikett Bottom« von Amyas Northcote gilt dem Herausgeber und Kenner klassischer Phantastik, Robert N. Bloch, der uns den Text als Entnahme aus seinem Privatdruck »Der verblichene Earl of D.« überließ. Übersetzt hat diese und die weiteren Geschichten der Sammlung kein geringerer als Michael Siefener. Amyas Northcote steht in der ehrenwerten Tradition der englischen Schauermär und fällt dabei durch einen angenehm eleganten Stil auf.
Leser älterer Ausgaben von GEGEN UNENDLICH werden sich an Ute Dietrich erinnern, eine Autorin, von der wir uns noch mehr Geschichten aus Science Fiction und Phantastik wünschten. Diesmal ist sie mit der dystopischen Elegie »Das Eis« vertreten, die die bekannten Topoi mit menschlicher Einfühlung neu belebt.
»Melchior Grün und das Sternentier« von Michael Hutter – dem wir auch das reizvolle Titelbild verdanken – geriert sich zunächst wie ein Märchen, entpuppt sich aber rasch als ein Betthupferl, das wir unseren Kleinen auf keinen Fall zumuten würden …
Ähnlich gelagerten Avancen wie in der vorherigen Erzählung kann sich die Protagonistin in Ellen Nortens »Der magische Schleier«, einer Geschichte mit dem Flair von 1001 Nacht, erfolgreich erwehren. Die Autorin ist zuletzt auch als Herausgeberin mit der vielbeachteten Anthologie »Das Alien tanzt Kasatschok« hervorgetreten.
Zum guten Schluß gibt Armin Möhle eine profunde Einführung in das Werk von Gert Prokop (1932–1994), der es zu DDR-Zeiten verstand, mit Witz und Tücke die staatlichen Kontrollen zu unterlaufen. Im Fokus der Betrachtung stehen Prokops SF-Krimis rund um den Privatdetektiv Timothy Truckle.
Aber auch die anderen utopischen Geschichten Gert Prokops lohnen eine Lektüre. Ein Beispiel für seinen Ideenreichtum und seine kurzweilige Art des Erzählens ist die Geschichte »Null minus unendlich«, die von einer bedrückend überbevölkerten Erde und einem Erfinder handelt, der glaubt, eine Lösung für die Misere gefunden zu haben. Wir danken dem Eulenspiegel-Verlag, der uns eine Neuveröffentlichung gestattete, und weisen gerne darauf hin, daß die Kurzgeschichtensammlung gleichen Titels als eBook verfügbar ist.
An dieser Stelle bliebe nur noch eine Anmerkung in eigener Sache: Wie gewohnt wird auch die vorliegende eBook-Ausgabe von GEGEN UNENDLICH im Druck erscheinen, und zwar im allseits bekannten Verlag p.machinery.
Lassen Sie sich gut unterhalten!
Die Herausgeber
Awe / Fieberg / Pack
Bonn, im April 2018
Michael J. Awe
DER SELTSAMKEITSLADEN
Es war ein kleiner, unscheinbarer Laden in einer langen Nebenstraße, der auf den ersten Blick durch nichts weiter auffiel und den doch jeder in der Stadt kannte. Nur ein Außenstehender, der die unordentliche Schaufensterauslage ein wenig näher in Augenschein nahm, konnte in die Verlegenheit kommen, sich ein wenig hilflos nach einem Ladenschild umzusehen, das es nicht gab, um dann irritiert mit einem letzten Blick über die Schulter seiner Wege zu gehen.
Im Schaufenster dieses merkwürdigen Geschäftes befanden sich Puppen. Keine kunstvollen Marionetten, keine liebevoll handgefertigten Figuren für die Weihnachtskrippe und erst recht kein Kinderspielzeug, sondern schmucklose, menschengroße Kunstoffgestalten mit ziemlich gewöhnlicher Kleidung, die mal mehr, mal weniger neuwertig war und keinen besonderen Stil erkennen ließ. Ein Gedanke an einen Second-Hand-Laden zerstreute sich sofort, wenn man die unvorteilhafte Aufstellung und die fehlenden Preisschilder betrachtete; die Puppen standen nämlich in einem wilden Durcheinander auf der kleinen Schaufensterfläche und waren so dicht gedrängt, dass man die eine Puppe nur schwer von ihrem Nachbarn unterscheiden konnte. Wohin man auch blickte, es standen acht, neun und mehr Puppen hintereinander, sodass man nur die vorderen Reihen, die so nah an der Scheibe standen, dass ihre ausdruckslosen Gesichter schon die Scheibe berührten, deutlich erkennen konnte.
Auch der Mann, der jetzt vor dem Laden stehenblieb, konnte in dem Durcheinander wenig ausmachen, aber sein zerstreuter Blick bekam eine Spur von Traurigkeit und unruhig nestelte er an dem Kragen seines dünnen Mantels, ein kleiner Tick, den er sich nicht abgewöhnen konnte, trotz ständiger Ermahnung durch seine Frau, das in der Öffentlichkeit sein zu lassen. Der Mann war nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, sein Haar war ein wenig zu lang und die Nase etwas zu groß. Das schmale Gesicht hätte eine Lebendigkeit ausgestrahlt, wenn es nicht in tiefer Nachdenklichkeit erstarrt gewesen wäre wie ein vereister See im Dezember. Seine Hand legte sich auf den abgenutzten Messingknauf, dem unzählige Besucher bei ihrem Eintritt die Farbe von hellem Gold verliehen hatten, und drehte ihn nach links. Das Öffnen der Tür wurde von dem Schellen einer kleinen Klingel begleitet.
Читать дальше