Das klang jetzt ziemlich weit hergeholt, und das sagte ich dir auch.
»Aber wenn es stimmt, könnten wir mit uns selber sprechen. Wenn wir nach dem Anruf zu dem anderen Apparat gehen und abheben. Von der Vergangenheit in die Zukunft, und umgekehrt.«
Ich lachte dich aus, aber so schnell läßt du dich nun mal nicht von einer Idee abbringen.
»Ausprobieren schadet nicht«, meintest du, und was hätte ich dagegen haben sollen. Schlimmstenfalls würdest du dich lächerlich machen, sagte ich mir, und bestenfalls … na ja, das wäre dann mal wirklich eine Sensation!
Am anderen Tag, nach der Schule, trafen wir uns am Rande der Steppe. Der Weg zur Höhle erschien mir länger als sonst, Ungeduld trieb uns voran. Diesmal ließ ich dir den Vortritt. Wir steckten die Köpfe zusammen und warteten. Es klingelte sehr lange, bis jemand am anderen Ende abnahm. Um nichts zu verpassen, hatte ich mein Ohr dicht an den Hörer geschoben, den du fest umklammert hieltest. Dann hörten wir ein Klicken, ein nervöses Räuspern, eine vertraute Stimme.
Hallo, hallo, wer ist dort? Bitte melden, bitte melden.
Die folgenden Worte gingen unter in einem prustenden Lachen. Es klingt fremd, wenn man sich selber sprechen hört, zumal über eine Telefonleitung, aber das war ich, unverkennbar! Mein zukünftiges Ich – vielleicht eine halbe Stunde älter als ich hier in diesem Moment – mein Ich, das mit uns redete. Ich war so überwältigt, daß ich keinen Ton herausbrachte. Zum Glück hatte es dir nicht die Sprache verschlagen.
»Major Tom ruft Ground Control!« riefst du in den Hörer. Die Verblüffung brachte auch mein zukünftiges Ich auf der anderen Seite für Momente aus der Fassung.
David, bist du es wirklich? schnarrte die Stimme, die mir gehörte, aus der Muschel.
»Was denkst du denn, Rick! Kein Scherz.«
Ein Schnaufen in der Leitung. »Krass. Du stehst nämlich gerade neben mir.« Kurze Pause, Gemurmel im Hintergrund, dann: Okay, Uhrenvergleich. Es ist jetzt 4:15 h.
Du zogst deinerseits den Zeitmesser zu Rate. »Hier ist es erst 3:50 h.«
Dann macht euch mal auf den Weg, tönte es aus dem Hörer. Man sieht sich!
Ich mußte grinsen. Gib's zu, Humor hatte ich ja, obwohl mir heute längst nicht mehr nach lachen zumute ist. Am anderen Ende wurde aufgelegt.
Wir liefen aufs Geratewohl los, in die ungefähre Richtung aus der – wie wir uns zu erinnern glaubten – das erste Mal das Klingeln zu hören gewesen war. Aus den Gängen wehte uns von irgendwoher ein Wind entgegen, wisperte über die Felswände, strömte uns übers Gesicht. Wie Forellen, die flußaufwärts schwimmen, folgten wir intuitiv diesem Luftstrom hin zu seinem unbekannten Ursprung. Besonders stark wurde der Wind dort, wo die Höhlendecke sich so weit absenkte, daß wir uns nur kriechend fortbewegen konnten, und erneut glaubte ich einen murmelnden Gesang aus dem Säuseln herauszuhören, aber das schrieb ich wieder meiner Einbildung zu.
Als wir endlich durch eine Öffnung unter eine sich weitende Kuppel traten, ertönte das erste Klingelzeichen. Wir hatten abrupt haltgemacht, denn vor uns lag eine trichterförmige Senke. Rund um diesen Abgrund verlief entlang der steil aufragenden Wand ein schmaler Pfad. Diesem Pfad folgten wir, du voran, blind auf einen sicheren Tritt vertrauend. Steine lösten sich unter unseren Schritten, hüpften an den Wänden aufschlagend in die Tiefe und fielen schließlich mit vernehmlichem Platschen in stehendes Wasser.
Der Kommunikator meldete sich zum zweiten Mal, als der Boden an einer schmalen Stelle unter mir nachgab und ich ins Leere trat. Mit einem Schrei kippte ich durch die Luft nach vorne. Strauchelnd fand ich Halt an der gegenüberliegenden Abbruchkante. Meine Füße strampelten über dem Abgrund, während ich mich mit den Unterarmen auf den Pfad vor mir stützte. Du warst schon zur Stelle und zogst mich auf sicheren Boden. »Ich hab dich, Rick!«
Das Klingeln ertönte zum dritten Mal.
»Scheiße nochmal! Ich hätte tot sein können!«
Du aber bliebst gelassen. »Ist doch nichts passiert. Komm, weiter!«
Der Schreck war schnell überwunden. Ich rappelte mich hoch, und wir setzten unseren Weg fort. Wäre nicht das beharrlich wiederholte Signal gewesen, das der Kommunikator aussandte, hätte uns spätestens ein Glimmen, das schon von weitem zu sehen war, seinen Standort verraten. Das Licht fiel aus der perfekt gerundeten Halbkugel einer kleinen Grotte auf den glatten Boden. Wir eilten zu dem Apparat. Wie schon sein Pendant im unteren Teil der Höhle war er in einen grünlichen Schimmer gehüllt, der wie lebendiger Nebel vor meiner Hand zurückwich, als ich den Hörer umfaßte. Ich schnitt das Klingeln ab, indem ich den Ruf annahm.
»Hallo, hallo, wer ist dort? Bitte melden, bitte melden«, keuchte ich. Weiter kam ich nicht, du stießt mir den Ellbogen in die Seite. Ich lachte nervös.
Die Muschel vibrierte: Major Tom ruft Ground Control!
Ich warf dir einen raschen Blick zu. »David, bist du es wirklich?«
Was denkst du denn, Rick! Kein Scherz, erwiderte deine Stimme vom anderen Ende.
Ich schnaufte. »Krass. Du stehst nämlich gerade neben mir.«
»Frag nach der Uhrzeit«, warfst du ein. Ich nickte.
»Okay, Uhrenvergleich«, sprach ich in den Hörer und schaute nach. »Es ist jetzt 4:15 h.«
Die Antwort kam ein paar Augenblicke später: Hier ist es erst 3:50 h.
»Dann macht euch mal auf den Weg«, schmetterte ich. »Man sieht sich!« In dem Moment kam mir der Spruch gar nicht mehr so witzig vor, aber was raus war, war raus. Ich unterbrach die Verbindung.
Wir kehrten um. Die Stelle im Pfad, wo ich eingebrochen war, sah gar nicht mehr so gefährlich aus. Mit einem beherzten Sprung überwanden wir die Lücke.
Auf dem Heimweg versuchten wir, uns über die Bedeutung dessen, was wir erlebt hatten, klarzuwerden. Etwas in der Tektonik der Zeit war ins Rutschen geraten, die Schichten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hatten sich verschoben. Es ließ uns schwindelig werden, darüber nachzudenken, daß Vorher und Nachher austauschbar geworden waren, es war, als würde man zu lange in eine sich drehende Spirale schauen, die aus dem Nichts wuchs und wieder vom Nichts aufgesogen wurde.
Es war schon dunkel, als wir uns an einer Straßenecke trennten, du gingst in die eine Richtung, ich in die andere, jeder zu seinem Zuhause. »Wir sehen uns in der Schule!« riefst du mir zum Abschied zu. So lange sollte es nicht dauern, und daran warst du nicht ganz unschuldig.
Ich konnte verstehen, daß dir eine Bemerkung über unsere Entdeckung herausgerutscht war, schließlich hatte ich selbst damit zu kämpfen, damit hinter dem Berg zu halten, als unsere Familie am Abendtisch versammelt war. Deine Eltern wußten sofort, was zu tun war, als sie von der Sache hörten. Von einem Moment auf den anderen wurde die beschauliche Ruhe in unserer Straße gestört von Einsatzfahrzeugen mit Warnlichtern, aus denen in Schutzanzügen vermummte Gestalten sprangen.
Solch ein Aufgebot sah man in der Kolonie auf Causa Prime, wo Gewaltverbrechen die Ausnahme waren, eher selten. Man kannte es bestenfalls von Einsätzen bei Naturkatastrophen, wie Sandstürmen oder Meteoriteneinschlägen, oder bei Reaktorunfällen. Etwas in dieser Größenordnung mußte vorgefallen sein, sagte ich mir, als ich in einen Quarantänewagen verfrachtet wurde. Dort hocktest du schon auf einer Pritsche, den schweißnassen Pony an die Stirn geklebt, käsig das Gesicht darunter. Die ganze Fahrt über wechselten wir kein Wort. Ich starrte durch das Heckfenster auf die Straße, wo unsere verwirrten und besorgten Eltern uns in ihren Privatfahrzeugen folgten.
Auf der Quarantänestation wurden wir gründlich untersucht: Blutproben, Strahlenmessung, MRT, CT, EEG, die ganze Palette, nur um sicherzugehen. Denn es waren gar keine gesundheitlichen Gefahren, denen man sich aussetzte, wenn man die Zeitzonen in den Höhlen durchschritt. Zwar war es eine massive Verzerrung auf zellularer Ebene, wenn jede Körperfaser daran gehindert wurde, natürlich zu altern, und gezwungen wurde, auf einen Schlag älter zu werden, ganz gleich, ob es sich dabei nur um Minuten handelte, trotzdem hatten wir nichts zu befürchten. Die Testergebnisse zeigten, daß wir kerngesund waren.
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