Die zwei Sonnen standen bereits tief, ihr Licht blendete uns am anderen Ende des Tunnels. Es fiel durch die unregelmäßigen Öffnungen der Felswand, die sich über unseren Köpfen erhob. Von außen sah die in den Felsen geschlagene Architektur imposant aus – wie ein gigantischer Käse mit sauber ausgeschnittenen Löchern, in Größe und Form keines wie das andere –, und von innen gestattete sie uns einen Ausblick über die Landschaft des Planeten, der uns immer von neuem den Atem nahm. Die Strahlen des untergehenden Doppelstern streiften kurz hintereinander die Kristallgipfel der Berge, und Tausende von Prismen streuten Spektralfarben über die weite Landschaft und malten sie bunt.
Der Wind pfiff durch die ungezählten Öffnungen, sang sein Lied. Eine fremde Melodie, sonderbar anmutig, in verstörenden Harmonien. Manchmal mischte sich so etwas wie Worte in einer unbekannten Sprache in die auf- und abschwellenden Töne, aber da spielten uns unsere Sinne wohl einen Streich. Ihnen zuzuhören verursachte eine Gänsehaut, und wir zweifelten nicht daran, daß man dem Wind nicht ewig sein Ohr schenken konnte, ohne verrückt zu werden.
Bald aber wandten wir uns den Räumen zu, die hinter dieser Fassade in den Berg getrieben worden waren und die wir gewissenhaft erkunden wollten. Vor längerem schon hatten wir beschlossen, systematisch vorzugehen, und dank der zeitraubenden Sorgfalt waren wir in dem labyrinthischen Gewirr aus Gabelungen, Treppen, Etagen, Durchbrüchen und Querverbindungen noch nicht weit vorgedrungen. Es gab so viel zu entdecken, dabei war nicht einmal zu erkennen, welchem Zweck die einzelnen Räume jeweils gedient haben mochten. Jeder Raum, den wir erkundet hatten, war von uns markiert worden, und so kletterten wir durch die Fluchten vorbei an unseren alten Kreidezeichen.
Wenn die Buckel und Auswölbungen in den Räumen als eine Art Möbelstücke hatten dienen sollen, dann stellte uns ihre Ergonomie vor ein Rätsel, was den Körperbau ihrer einstigen Besitzer betraf. Wie mochte eine Figur beschaffen sein, die auf solchen Stühlen einen bequemen Sitz fand oder sich in den in die Wand eingelassenen Schlafkojen zur Ruhe betten konnte?
Hier gab es nur Rundungen, Bodenwellen, kugelige Ausstülpungen, Kurven, aber keine rechten Winkel oder planen Flächen, keine Ecken und Kanten. Alles war abgerundet und glatt geschliffen wie ein Kiesel, der Jahrzehnte im Fluß gelegen hatte.
Und jeder Raum, den wir gesehen hatten, war leer. Schon vor Generationen waren diese Katakomben einer untergegangenen Zivilisation von Schrotthändlern, Kuriositätensammlern und Glücksrittern leergeräumt und von administrativen Stellen entkernt worden. Was von den Funden sichergestellt worden war, konnte wir auf dem alljährlichen Schulausflug in die Hauptstadt der Provinz besichtigen. Zweck und Höhepunkt war der Besuch des exoterristrischen Museums der Kolonie.
Du hast auf diesen Schulausflügen immer so getan, als bemerktest du es nicht, aber es war offensichtlich, daß dich Sylvia, eine Klasse unter uns, aus der Ferne anhimmelte. Sie traute sich nicht, näher zu kommen und dich anzusprechen, aber sie blieb uns in immer gleichem Abstand auf den Fersen und ließ dich nicht aus den Augen, wenn unsere Gruppen in dem Museum von einer Halle in die andere strömten.
Wir schlenderten an den Vitrinen vorbei und bestaunten die Artefakte, die die Aliens, die Causa Prime vor uns besiedelten, hinterlassen hatten. Jeder Gegenstand hatte seine eigene fragmentarische Geschichte, und je größer das Rätsel war, das er aufgab, desto verstiegener waren die Spekulationen und desto wilder wucherten die Legenden. Wir Kinder überboten uns gegenseitig darin, die Lücken, die die Wissenschaft ließ, mit unseren phantastischen Erklärungen zu füllen.
Wir sahen Raumverzerrer und Singularitätswaffen, Dinge, die sich selbst unserem Vorstellungsvermögen entzogen. Dort, wo die unwahrscheinlichen Gerätschaften herstammten, schienen die Naturgesetze nicht zu gelten, jedenfalls nicht die aus unserer Galaxie bekannten. Es gäbe Räume, in denen die Schwerkraft aufgehoben wäre und die man wie in einem Aquarium schwimmend durchquerte, es gäbe Räume, in denen die Zeit langsamer verstriche und man sich wie in Zeitlupe bewegte oder wo die Zeit – umgekehrt – beschleunigt wäre und man sich einen Spaß daraus machen könnte, umherzuzappeln wie die Slapstickkomiker in den Schwarzweißfilmen von der Erde. Und schließlich gäbe es Räume, in denen alles, was man sagte, in eine fremde Sprache übersetzt würde. Man würde mitten in diesen Räumen stehen, ausgedachte Reden schwingen, und alles, was die eigenen Lippen verließe, wären die gutturalen Laute, das Glucksen und Kollern einer untergegangenen Rasse.
All das waren Geschichten, von denen wir inzwischen gar nicht mehr wußten, was an ihnen auf Tatsachen beruhte und was an ihnen von uns hinzugedichtet worden war. Keinen einzigen Beweis hatten wir auf unserer Suche bisher für sie gefunden.
Für den sogenannten Magnetberg mit dem verzweigten Höhlensystem interessierte sich außer uns niemand mehr. Wir aber, beflügelt von einer zügellosen Phantasie, gaben die Hoffnung nicht auf, an diesem rätselhaften Ort doch noch die bahnbrechende Entdeckung zu machen. Bis wir eines Tages tatsächlich jenen Apparat entdeckten, ein vergessenes Artefakt in einem niedrigen, düsteren Gewölbe. Das Gerät stand auf einem runden Podest und war in einen matten Schimmer gehüllt wie in grün leuchtenden Nebel.
Zuerst erkannten wir nicht, was es darstellte, doch dann meintest du, es wäre so etwas wie ein Kommunikator, eine Art prähistorischer Fernsprecher. Das Ding sah aus, als hätte man es in eine Mikrowelle gesteckt und halb zerschmolzen wieder herausgeholt und erstarren lassen. Der schwere Hörer war kaum zu fassen, er drohte mir aus der schweißnassen Hand zu rutschen. Wie alles, was die Aliens bearbeitet hatten, war er unregelmäßig geformt, klumpig. Ich probierte die Tasten aus und lauschte in die Muschel.
»Was hörst du?« wolltest du wissen
»Nur das Rufzeichen am anderen Ende.«
Als nichts passierte, wurdest du ungeduldig. »Wie lange willst du’s denn noch klingeln lassen?«
»Acht Mal, das ist meine Glückszahl«, meinte ich. Danach legte ich auf. Unser beider Enttäuschung war groß. Wir sahen uns um, aber in diesem Gewölbe war nichts mehr zu entdecken, das zeigte uns ein schneller Rundgang. Es gab hier nichts mehr für uns zu tun, und so waren wir schon auf dem Weg zum Ausgang, als wir das Klingeln hörten. Nicht von dem Apparat, den ich benutzt hatte, sondern von weit weg, tief im Inneren des Magnetberges. Der Laut drang durch das Geflecht aus Gängen und Röhren zu uns, von den Felswänden hin- und hergeworfen und von den eigenen Echos überlagert. Trotzdem war es nur ein Rinnsal von einem Ton, dem wir mit angehaltenem Atem lauschten. Er klang unwirklich, als suchte er sich einen Weg aus einer anderen Dimension in unsere Welt.
»Was ist das?« flüstertest du.
»Ein anderer Fernsprecher? Aber wo denn?« wisperte ich zurück.
»Und wer ruft an? Und warum ausgerechnet jetzt?«
»Ob das Zufall ist?«
Wir lauschten dem Signal. Unwillkürlich zählten wir mit. Es klingelte genau achtmal, danach lastende Stille. Daß es unser eigener Anruf gewesen war, den wir hörten, wußten wir da noch nicht. Erst am anderen Tag kamst du mit dieser Erklärung an, die du in den digitalen Archiven der Kolonie gefunden hattest.
»Tief in dem Höhlensystem soll es Zonen unterschiedlicher Zeiten geben«, erzähltest du. »Gegenwart und Vergangenheit und Zukunft grenzen dort quasi direkt aneinander, und du kannst einfach so von einer Zone in die andere spazieren.« Ich mußte zugeben, das verblüffte mich.
»Irre! Aber was hat das mit dem Fernsprecher zu tun?«
»Denk nach. Könnte es nicht sein, daß wir die Zukunft angerufen haben? Minuten später hat es am anderen Ende geklingelt. Das waren wir – zeitversetzt!«
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