Also schrieb der Mann die dritte und letzte Seltsamkeit für heute auf das Blatt Papier:
Dem Stoffschaf einen Namen geben und so tun, als wäre es lebendig.
Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, ging auch diese Runde aus Schlägen vorüber, und während er mit zitternden Händen das Blatt Papier von sich schob, verließen die Puppen mit leisen Schritten den Raum. Nur die Puppe mit dem Anzug blieb an der Tür stehen. Er warf einen Blick auf seine niedergeschriebenen Worte, ruhig und unbeteiligt, und schob den Holzstuhl zurück. Das Blatt Papier würde die erste Seite eines Buches bilden, auf dem sein Name stand, es würde irgendwo in den Untiefen des Ladens aufbewahrt werden, Seite an Seite mit identisch gebundenen Büchern, Regal über Regal in einem staubigen Raum, den nur die schweigsamen Puppen jemals betraten.
Der Mann verließ den Raum mit weichen Knien und lauschte in sein Innerstes, während er langsam der Puppe durch den kleinen Flur folgte, die den Stock in eine große Vase steckte und durch die Tür zum Hauptraum trat. Vermochte er einen Unterschied festzustellen? Er fühlte sich ruhig, als hätte er lange geweint und wäre nun in ein Stadium der Leere eingetreten, die eine leichte Erschöpfung mit sich brachte. Die Schmerzen pulsierten dumpf durch seinen Körper und wurden von einer matten Betäubung begleitet.
Er ging durch den kleinen Geschäftsraum, ohne einen Blick auf die anderen Besucher zu werfen, und öffnete die leise klingelnde Eingangstür.
Als er aus dem Laden trat, blieb er vor der Fensterfront stehen und besah sich all die früheren Besucher, die dort auf ihren Einsatz in dem Geschäft warteten, stumm, voller Geduld und frei von jeglichen Seltsamkeiten, die sie mit unzähligen Abgaben ihrem Inneren abgetrotzt hatten, um vor sich und den Augen der Mitmenschen bestehen zu können. Seine Hände, tief in den Taschen seines Mantels vergraben, waren ruhig. Nicht für einen Moment kam ihm das Bedürfnis, an seinem Kragen zu nesteln. Mit einem erleichterten Lächeln, in den Augen eine Spur von Scham, wandte er sich von den Puppen ab und ging die kleine Nebenstraße hinunter, die er bis zu seinem nächsten Besuch nicht mehr betreten würde.
Andreas Fieberg
5-MINUTEN-SCHICKSAL
Und dann gibt mir die Stimme aus der Zukunft – deine Stimme – den entscheidenden Hinweis. Du tust es ohne zu wissen, welche Weichen du damit stellst, aber du tust es für mich, denn du erweist mir damit einen großen Gefallen, einen Gefallen, der meine Haut retten und mein Gewissen reinhalten wird.
Warum? schluchzt es aus dem Hörer, und aus deiner Stimme spricht grenzenlose Verzweiflung. Warum bist du nicht mitgekommen? Du wußtest es, nicht wahr? Du hast es von Anfang an gewußt!
»Nein, ich wußte es nicht, woher auch«, erwidere ich leise. »Ich konnte es nicht wissen, bevor du es mir gesagt hast.« Meine Lippen fühlen sich taub an. »Aber ich weiß es jetzt.« Bevor ich den Hörer zurücklege, sage ich noch: »Danke.«
Du stehst neben mir, derselbe, mit dem ich gerade telefoniert habe, und schaust mich erwartungsvoll an, grinst unsicher, denn jetzt wäre es an der Zeit, daß ich dir sage, was gesprochen wurde. Aber ich kann es dir unmöglich preisgeben. Ich spüre, wie mir die Knie weich werden, und ich sinke auf einen Felsen.
»Mir ist schlecht«, sage ich. Das ist noch nicht einmal gelogen. »Ich komme nicht mit.«
Du verziehst spöttisch den Mund. »Stell dich nicht so an. Du mußt mitkommen, es geht gar nicht anders! Du weißt doch, die Regeln! Das Naturgesetz!«
»Eben drum.« Ich schüttele den Kopf. »Ich darf gar nicht mitkommen. Ich bin nämlich nicht da gewesen, als du …« Ich zögere und verbessere mich: »Ich werde nicht dabei sein, wenn du den Apparat benutzt.«
Du siehst mich fassungslos an. Eine schreckliche Ahnung überkommt dich. »Wie kann das sein?« schreist du außer dir. Du packst mich bei den Schultern und schüttelst mich. »Ist was passiert? Was ist passiert?«
»Woher soll ich das wissen?« Ich versuche, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Keine Zeit für lange Diskussionen.« Ich schaue hinüber zu dem Mädchen, das starr einige Schritte entfernt steht und unseren Streit beobachtet hat. »Ihr müßt euch beeilen, bald kommt das Signal. Du mußt an Ort und Stelle sein, um es zu beantworten.« Ich befreie mich aus deinem Griff und dränge dich tiefer in das Innere der Höhle. Alles Blut ist aus deinem Gesicht gewichen, du bist kreidebleich. Ich sehe, wie es in dir arbeitet, wie du alles, was wir von den Wissenschaftlern und dem Sicherheitsdienst gehört haben, gegeneinander abwägst, und ich sehe, wie du zu einem Entschluß kommst, dem einzigen Entschluß, der möglich ist.
Du wischst dir die Tränen ab, drehst dich schicksalsergeben um und trottest mit gesenktem Kopf los, das Mädchen an der Hand hinter dir herziehend.
Als wir Tage zuvor durch die Steppe auf Causa Prime streiften, ahnte keiner von uns, was unsere Neugier anrichten würde. Seither habe ich mir viele Gedanken gemacht über Vorbestimmung und den festgelegten Ablauf der Zeit. Aber, frage ich dich, darf man überhaupt von Schicksal sprechen, wenn man selbst es war, der den ersten Dominostein umstieß?
Seit einer halben Stunde schlich ich schweigend hinter dir her. Wir kannten uns von klein auf, waren Sandkastenfreunde, aber du, David, als der ältere von uns beiden, gabst den Ton an.
Schweiß stand mir auf der Stirn, die Füße in den Sandalen schmerzten. Der orangene Himmel, von einem Doppelstern zum Kochen gebracht, neigte sich über Causa Prime, eine flammende Wand, die aussah, als könnte sie jeden Moment einstürzen. Die Landschaft war eintönig, viele Felsen, wenig Vegetation, nur dürre, fast blattlose Bäume, unter deren tiefhängenden Ästen wir uns immer wieder wegducken mußten. Wir waren begierig, unser Ziel zu erreichen, bis dahin gab es nicht viel zu reden. Unser Zuhause, die Ansiedlung – flache weiße Bauten in einer ockerfarbenen Wüste, deren zierratlose Zweckmäßigkeit offensichtlich war –, lag weit hinter uns.
Wir folgten zwischen lichtem Unterholz einem unsichtbaren Pfad, der sich nur einem geübten Auge durch flach gedrückte Halme oder abgeknickte Zweige verraten hätte, und bogen schließlich um einen vorspringenden Felsen, hinter dem sich unser Ziel verbarg. Den großen Ballen dornigen Gestrüpps schoben wir beiseite, um eine halb verschüttete Stahltür freizulegen. Die Tür, vor der sich das Geröll eines Erdrutsches aufhäufte, wurde von einem armdicken Ast spaltbreit aufgehalten. Als wir uns über die dunkle Öffnung beugten, wehte uns schon der vertraute Geruch von verbotenen Abenteuern entgegen. Es war eine undefinierbare Mischung aus alter Zeit, Sternenstaub, Verrat und Hinterhalt. Behende schoben wir unsere schlacksigen Gestalten ins Innere, rutschten über eine kleine Sanddüne nach unten und kamen in dem lichtlosen Gang auf die Füße.
Es war eine glückliche Fügung gewesen, daß wir diesen unterirdischen Gang eines Tages auf unseren Streifzügen entdeckten, die uns in einer immer weiter um unsere Siedlung ausgreifenden Spirale hierher geführt hatten. Ebenerdig wäre das Gelände nämlich nicht zu betreten gewesen. Es wurde umschlossen von einer langgestreckten Reihe mannshoher Pylone, die unscheinbar wirkten, aber von denen es hieß, daß sie denjenigen, der es wagte, zwischen sie hindurchzutreten, augenblicklich grillen würden. Wir schenkten der Geschichte keinen Glauben, trotzdem wagten wir nicht, unser Glück herauszufordern. Oft stritten wir uns darüber, ob die tödliche Grenze dazu gedient hatte, Gefangene festzuhalten oder Eindringlinge fernzuhalten, und da wir uns nie einig wurden, gab es Geschichten, die mal die eine, mal die andere Auslegung favorisierten.
Der Gang war eine lange Röhre mit kreisrundem Durchmesser, in der wir aufrecht stehen konnten, die gewölbte Wand fugenlos glatt. Die Lichtkegel unserer Lampen schälten Ausschnitte des vor uns liegenden Weges aus dem Dunkel.
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